1. 3 Geschichte und Entwicklung des Kinder- und Jugendmusicals

Um definitorisch und inhaltlich zu klären, welcher Typus von Stücken gemeint ist, soll an dieser Stelle kurz die Geschichte des Kinder- und Jugendmusicals vorgestellt werden.9

1.3.1 Der Terminus "Kindermusical"

Der Begriff "Kindermusical" erscheint zuerst Anfang der 70er Jahre im Bereich des professionellen Kinder- und Jugendtheaters bei dem Librettisten Heinz Wunderlich und seinen Texten für die Komponisten Franz Josef Breuer und Horst A. Hass (z. B. Sieben auf einen Streich, 1971, und Die Vier vom Kuddelmuddelplatz, 1973) sowie Graziano Mandozzi (Um die Ecke liegt Sizilien, 1972). Der Terminus "Musical für jung und alt" tritt bereits 1966 in Thorbjörn Egners Stück Die Räuber von Kardemomme auf, dessen norwegische Urfassung von 1956 stammt. Eines der ersten ins Deutsche übersetzten englischen Kindermusicals, das an deutschen Bühnen reüssierte, war Aufstand im Gemüsebeet von David Wood (dt. Text von Dorothea Renckhoff und Karl Wesseler, 1972). Vom gleichen Autor stammt das erfolgreiche "musikalische Kinderstück" Der Lebkuchenmann (1977). Diese Stücke wurden zunächst ausschließlich von professionellen Bühnen für ein Kinderpublikum aufgeführt.

Ende der 70er Jahre ist der Begriff "Kindermusical" bzw. "Musical für Kinder" fest etabliert und wird für so unterschiedliche Stücke verwendet wie Willi Schlappohr von Peter Janssens (1975), Dampflok-Story von Reimund Hess (Text von James Krüss, 1979), Der Sängerkrieg der Heidehasen von Christian Bruhn (Text von James Krüss, 1979), Alice im Wunderland von Jens-Peter Ostendorf (Text von Helmut Polixa, 1978) und Oh, Mister Mock von Hans Hofmann und Berry Lipman (1979). Die meisten dieser Stücke sind bereits auf eine Aufführung durch Kinder angelegt. Diese Zielrichtung hat sich seitdem durchgesetzt. Im Folgenden wird nur noch auf solche Kindermusicals Bezug genommen, die von Kindern selbst aufgeführt werden können.

1.3.2 Komponisten und Texter

In den ersten zehn Jahren beschäftigten sich fast ausschließlich professionelle Komponisten und Texter mit dem Musical für Kinder.

(Hess ist Komponist und Arrangeur von Unterhaltungsmusik, Bruhn erfolgreicher Schlagerkomponist, Ostendorf Komponist und Kompositionslehrer an der Universität Bremen; Krüss ist einer der bekanntesten Kinderbuchautoren der 50-er bis 70-er Jahre, Wunderlich ein bekannter Schlager- und Kabaretttexter, viele Librettisten sind Dramaturgen oder andere Theaterpraktiker).

In den 80er Jahren kamen immer mehr Kompositionen von Schulmusikern hinzu, die vor dem Hintergrund einer konkreten Schulsituation für die Aufführung durch Kinder und Jugendliche konzipiert wurden (z. B. Wolfgang Fricke, Tom Sawyer, 1981, Wolfgang König, Strubbeltatz, 1986, Mechthild v. Schoenebeck, Die Rache der Igel, 1988, Heinz Lemmermann, Knasterbax und Siebenschütz, 1990). Heute entstehen an vielen Schulen und Musikschulen eigene Musicals, die von der spielenden Gruppe und den beteiligten Lehrern selbst getextet und komponiert werden.

1.3.3 Kindermusical versus `Erwachsenen´-Musical

Parallel zu dieser Bewegung vom professionellen zum Laienautor bzw. -komponisten ist eine Auffächerung des Gattungsbegriffs "Kindermusical" oder "Musical für Kinder" festzustellen. Eine theoretische Reflexion über die Gestaltungsprinzipien und Charakteristika der Gattung hat bis heute nicht stattgefunden, und die Orientierung am Musical ,für Erwachsene‘ ist sehr unterschiedlich. So ist die Verbindung von Musik, Drama, Tanz und Show, die das Musical charakterisiert, im Kindermusical oft nicht so ausgeprägt wie im ,Erwachsenen‘-Musical. Häufig dominiert der Text, während Tanz und Show nur in Ansätzen vertreten sind. Zwar fällt die Vielfalt der Inhalte und Textformen im neuen Kindermusical auf, aber die musikalische Gestaltung entspricht dieser Bandbreite nicht; hier dominieren mehr oder weniger einfache Popsongs und Tanzschlager. Inzwischen ist auch Rockmusik in Musicals für Kinder auf dem Vormarsch (z. B. Benni boxt nie und Pinke Punk von Herbert Hähnel und Eva Kenkenberg, 1993 bzw. 1995).

Im Bereich des Kindermusicals gibt es heute keine einheitliche Begrifflichkeit in Bezug auf das Genre mehr. Viele Autoren geben Werken mit Merkmalen des Musicals individuelle Untertitel, wie z. B. "Grusical", "Musical-Märchen" bzw. "Märchen-Musical", "Mini-Musical" o. ä. Bei englischen Autoren finden sich im Wesentlichen die Bezeichnungen "Play", "Musical Play", "Musical Comedy" (die beiden letzteren sind die ursprünglichen Gattungsbezeichnungen des Musicals) oder auch "Cantata-Musical" (diese für Stücke mit Chor in tragender Funktion). Einige weitere Musiktheaterstücke für Kinder werden nicht als "Musical" bezeichnet, obwohl sie wesentliche Gestaltungsmittel des Musicals aufweisen (z. B. die biblischen Pop-Kantaten von Michael Hurd und die Stücke von Hans und Gisela Buring).

1. 4. Das Genre Kinder- und Jugendmusical: Charakteristika

Die folgende Systematik der Gattung Kinder- und Jugendmusical basiert auf dem Bestand des Archivs der Arbeitsstelle Theaterpädagogik der Universität Münster, der bundesweit einzigen Forschungsstelle für das Kinder- und Jugendmusiktheater (ca. 1600 Stücke).10

1. 4. 1 Inhalt/Thematik/Textebene

  • Märchen und Sagen
  • Stücke nach Literaturvorlagen (bearbeitete bzw. vertonte Kinderbücher)
  • Moderne Fabeln, Comics
  • Alltags- und Umweltgeschichten
  • Fantasy, Science Fiction
  • Historische Stoffe
  • Biblische Geschichten

Das Märchen befindet sich als Musicalstoff auf dem Rückzug. Seit den 80er Jahren dominieren Alltagsgeschichten und Fantastik bzw. Science Fiction. Vor allem in den zahlenmäßig nicht überschaubaren schulischen Eigenproduktionen sind diese beiden Kategorien am häufigsten vertreten. Auch Musicalfassungen bekannter Kinder- und Jugendromane erfreuen sich in eigenschöpferisch tätigen Musical-AGs und bei komponierenden Schulmusikern großer Beliebtheit. Biblische Geschichten als Grundlage für Musicals haben in kirchlichen Spielgruppen Konjunktur; hier sind die Komponisten überwiegend Kirchenmusiker.

Damit ist das Themenspektrum des Kinder- und Jugendmusicals ebenso breit wie das des "großen" Musicals. Hierin liegt einer der Gründe für die Beliebtheit des Musicals in der schulischen Theaterarbeit.

1. 4. 2 Musikalische Gestaltung

Schlager (oft mit Jazz-Elementen; als Tanzmodell und / oder als Kabarettmusik in parodistischer Absicht)
einfache, melodiöse Popmusik (meist von anglo-irischer oder anglo-amerikanischer Folklore beeinflusst)
Rock einschließlich Rap
"Lloyd Webber-Stil"

Die ersten beiden Kategorien dominieren im Kindermusical, während Musicals für Jugendliche eher Rockstile aufweisen. Hier finden sich auch am häufigsten Alltagsgeschichten, die durch Rockmusik mit ihrem spezifischen sozialhistorischen Hintergrund gattungsimmanent angemessen gestaltet werden. Die wenigen neueren Rockmusicals für Kinder orientieren sich an Stilrichtungen zwischen Soft Rock und Rap. Der Lloyd Webber-Stil der aktuellen High Tech-Musicals kommt in Kindermusicals nur vereinzelt vor, da er einen hohen instrumentalen Aufwand voraussetzt, den Schulen in der Regel nicht leisten können.

In der musikalischen Begleitung dominiert die Band-Besetzung. Diese richtet sich nach den Möglichkeiten der aufführenden Schule (feste Arrangements werden von den Verlagen nur selten angeboten) und kann von Klavier mit Schlagzeug bis hin zur Big Band oder zum Orchester reichen.

In zunehmendem Maße nutzen Schulgruppen auch die Möglichkeit des Playbacks, die von einigen Verlagen auf CD oder MC angeboten wird. Es handelt sich um Halb-Playbacks, d. h. die Schüler singen live zur komplett aufgenommenen Begleitung. Diese Form des Playbacks wird nicht nur als hilfreich für die Probenarbeit empfunden (jeder Mitwirkende kann so seinen Gesangspart auch allein zuhause üben), sondern auch für Aufführungen häufig genutzt, wenn keine Band zur Verfügung steht. Ein weiterer Vorteil von Playbacks besteht darin, dass sie ein professionelles Arrangement enthalten, das den Hörgewohnheiten der Kinder und Jugendlichen entgegenkommt. In der Popszene ist das Playback an der Tagesordnung. Seine Nutzung entspricht also einer üblichen professionellen Praxis, der Kinder und Jugendliche aufgeschlossen gegenüberstehen.

Bei der vokalen Besetzung von Kindermusicals dominiert in der Regel der einstimmige Chor, in Musicals für ältere Kinder und Jugendliche treten eher Gesangssolisten auf, in komplexeren Werken auch mehrstimmige Chöre. Dies resultiert aus den entwicklungsbedingten stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen, über die allerdings aufgrund rückläufiger Singepraxis in Familie, Schule und Öffentlichkeit heute keine gültigen Aussagen mehr getroffen werden können.

1.4.3 Rollenspektrum

Kindermusicals haben meist sehr viele Rollen, da in der Regel eine große Zahl mitspielender Kinder beschäftigt werden muss. Autoren von Kindermusicals berücksichtigen häufig auch die unterschiedlichen Fähigkeiten der Kinder und stellen nicht nur die wenigen "Stars" heraus. Vielmehr sind in vielen Stücken auch stumme Rollen, Rollen mit geringem Textanteil und viel Statisterie vertreten, in denen noch unerfahrene und schüchterne Kinder vorsichtig an das Thea-terspielen herangeführt werden. Jugendmusicals haben meist wenige Hauptrollen und setzen bei den Akteuren einige Erfahrung mit den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten und mit theatralischen Wirkungen voraus. In zahlreichen Stücken, die für jahrgangsübergreifende Projekte genutzt werden können, ist die Mitwirkung von Erwachsenen möglich.

 

Foto "Lied der Muchachos"

 

Vor allem in der Frage des Rollenspektrums werden die Unterschiede von Kinder- und Jugendmusicals zu Stücken deutlich, die von Profis aufzuführen sind. Das heißt aber nicht, dass das Kinder- und Jugendmusical ausschließlich als pädagogisches Genre betrachtet werden kann. Vielmehr greift hier das Argument, dass nur künstlerisch Akzeptables ein adäquater Gegenstand der ästhetischen Erfahrung sei (s. o.). Orientierung in qualitativer Hinsicht gibt das professionelle Kinder- und Jugendtheater, das sich in den letzten dreißig Jahren zu einer künstlerisch hochinteressanten Sparte entwickelt hat und aus dem mit Linie 1 von Volker Ludwig und Birger Heymann (1986) eines der erfolgreichsten deutschen Musicals hervorgegangen ist.