Kategorie-Archiv: Musikalische Bildung

Kommentar zu den Äußerungen von SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel zur geplanten Neuordnung der Musikhochschulen in Baden-Württemberg

Neuordnung
Die Neuordnung betrifft alle fünf Standorte, die Aussage von Herrn Schmiedel trifft nicht zu, dass sich in Stuttgart, Freiburg und Karlsruhe nichts ändern wird oder soll. Auch an diesen drei Standorten sollen Bereiche ausgegliedert oder/und umstrukturiert werden. Die Hochschulen Stuttgart, Freiburg und Karlsruhe stehen zu Ihrem Auftrag, ihren Studierenden die bestmögliche Ausbildung an einem Ort künstlerischer Exzellenz zukommen zu lassen und sehen sich hierfür gerüstet. In gleicher Weise sehen sich die Hochschule als verantwortliche Partner in einem zukunftsfähigen Konzept für ganz Baden-Württemberg, die ihren Beitrag zu einer Neuordnung zu leisten bereit sind.

Ausländische Studierende, Nachfrage
Die Frage nach dem Anteil von Studierenden außerhalb der EU wurde in den Gesprächen mit Ministerium, Experten und Hochschulleitungen entgegen der Darstellung von Herrn Schmiedel ebenso ausführlich erörtert wie die Nachfrage in bestimmten Fächern (z.B. Klavier). Es ist sehr zu begrüßen, dass Frau Ministerin Bauer die Einführung einer Quote nachdrücklich abgelehnt hat.

Ganztags-Grundschule
Bezüglich der Ganztags-Grundschule ist anzumerken, dass die von der CDU seinerzeit durchgesetzte Abschaffung des Fachs Musik an den Grundschulen schon immer von den Musikhochschulen kritisiert wurde.

Leider sind die Musikhochschulen beispielsweise nicht für die Ausbildung von Grundschullehrern im Fach Musik zuständig,insofern richtet sich diese Kritik von Herrn Schmiedel an die Pädagogischen Hochschulen.

Vollstandorte
Der von Herrn Schmiedel verwendete Begriff ist irreführend. Derzeit ist keine einzige Musikhochschule in Deutschland ein sogenannter Vollstandort. Alle Hochschulen sind mehr oder weniger spezialisiert, wie übrigens die Universitäten des Landes Baden-Württemberg seit jeher auch. Universitärer Erfolg im Sinne nachhaltiger Exzellenz gründet dabei oft in Spezialisierung und Fokussierung.

Gesprächskultur
Die Gespräche im Ministerium wurden mit hoher sachlicher Kompetenz in einem breit angelegten Dialog ergebnisoffen geführt. Es wurde mit Unterstützung hochrangiger Experten (deren Auswahl mit den Hochschulen abgestimmt war) ausgelotet, wie vermieden werden kann, dass Einsparmaßnahmen zwangsläufig zu Qualitätsverlusten führen. Einvernehmliches Ziel der Gespräche war, die Qualität der Musikausbildung in Baden-Württemberg zu erhalten oder wo möglich gar zu verbessern. Es bestand Einigkeit, dass ein Festhalten am
Status quo dieser Anforderung nicht gerecht wird.

Prof. Hartmut Höll
Rektor der Hochschule für Musik Karlsruhe
Dr. Rüdiger Nolte
Rektor der Hochschule für Musik Freiburg
Dr. Regula Rapp
Rektorin der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst
Stuttgart (i.V. Prof. Dr. Matthias Hermann, Prorektor)

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Luxemburg ohne Musikunterricht?

In Luxemburg soll die Oberstufe der Sekundarschulen reformiert werden und obwohl es in Vorgesprächen anders versprochen wurde, hat das Unterrichtsministerium jetzt vorgesehen, dass Fach Musik fast komplett aus dem Schulunterricht zu entfernen.

Das Fach Musik wird nicht als Teil der Allgemeinbildung anerkannt!
Ein Kurssystem, dem deutschen nicht ganz unähnlich, soll nun eingeführt werden.
Es wird demnach nicht mehr möglich sein, Musik als Grundkurs oder Nebenfach zu belegen. Musik als Leistungskurs würde es geben, das Fach aber nur noch ein Bruchteil der heutigen Musik-Profilsektion sein, d.h. eine angemessene Vorbereitung auf ein Studium in einer Musikhochschule ist nicht mehr wirklich gewährleistet. Es soll 2 Fachbereiche geben, in welchen in einer Art Kurssystem die Fachkombinationen gewählt werden können. Im wissenschaftlichen Fachbereich soll Musik überhaupt nicht mehr wählbar sein, im sprachlichen nur noch beschränkt als Hauptfach.

Auf eine parlementarische Anfrage hat die Ministerin geantwortet, es gäbe hier in Luxemburg eine hohe Zahl junger hochtalentierter Sportler; die Jugendlichen, die ein höheres Musikniveau hätte, seien jedoch an einer Hand abzählbar.
Dies ist eine glatte Lüge, da wir allein bereits 3 Konservatorien haben, die ein sehr hohes Niveau gewährleisten. Diese Jugendlichen werden jedoch gebremst, da sie ab nun keinerlei Unterstützung seitens der Schule erwarten können (im Gegensatz zu den Sportlern, die sogar ein eigenes Sportgymnasium bekommen haben. Ein Musikgymnasium gibt es hingegen nicht).
Am Fach interessierte Jugendliche, die keine professionelle Karriere anstreben und dennoch Musik als Allgemeinbildung als Schulfach belegen wollen, haben dazu dann überhaupt keine Möglichkeit mehr.
Ein Ministeriumssprecher meinte sogar, wenn „In der Mittagsstunde ein ab und zu ein bisschen gesungen würde, wäre doch mehr als genug getan worden“. Wir Musiklehrer befürchten, dass es langfristig darum gehen wird, das Fach Musik ganz aus der Sekundarschule zu verbannen.

Wenn die Reform durchkommt, gäbe es in Luxemburg im gesamten Sekundarschulbereich nur noch 1 resp. 2 Schulstunden Musik in der 7. Klasse! Das wäre ein Skandal!

Daher, liebe Musik- und Kulturfreunde, bitte helfen Sie uns!
Wir haben eine online-Petition eingerichtet und freuen uns über jede Unterschrift sowie über jedes Weiterleiten an Ihre Bekannten/Freunde/Kollegen.

http://www.ipetitions.com/petition/musik-ist-allgemeinbildung/

Wenn Sie sonstige Ideen oder Ratschläge haben, wie wir unser Fach retten können, bitte lassen Sie es uns wissen. Wir haben zwar einiges in Arbeit, aber im Gegensatz zu anderen Fächern keine Lobby, da man hier die Augen vor den Erkenntnissen der musikpäd. und -neurophysiologischen Forschung komplett verschliesst und das Fach als überflüssig ansieht.

Vielen Dank für Ihre Unterstützung und Hilfe,

Danièle Diederich professeur d’éducation musicale im LTAM und LTML im Namen aller Musiklehrer in Sekundarschulen in Luxemburg

(http://instrumente.mysite.lu)

Thomas Münch und Ute Bommersheim: Musik-Klicks

04.09.2000
Die Frage nach dem Nutzen oder Gefährdungspotential einzelner Medien wird besonders bei ihrem ersten Erscheinen gern grundsätzlich und pauschal diskutiert. So stoßen beim Thema Internet begeisterte Befürworter seiner Nutzung, die etwa Visionen einer neuen ‚Global Community‘ verfolgen, auf Skeptiker, die vor allem auf das Gefährdungspotential hinweisen, wobei sie etwa auf problematische Inhalte oder die Verarmung der menschlichen Kommunikation durch das Medium abheben. Diese dichotomen Sichtweisen sind eher erkenntnishemmend denn fördernd, denn bei näherer Betrachtung wird schnell deutlich, dass das Internet – wie jedes Medium – eine Vielzahl an Umgangsmöglichkeiten eröffnet, und das unter Berücksichtigung der Nutzerperspektive auch ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber existieren, was seine Spezifika ausmacht und wie diese genutzt werden könnten und sollten. Diese Komplexität des menschlichen Umgangs mit dem Medium lässt sich nicht auf ein klares Pro oder Kontra reduzieren, sondern verlangt nach differenzierter Betrachtungsweise und Beurteilung.

In diesem Text erfolgt die Annäherung an das Medium aus einer ganz bestimmten Nutzerperspektive. Es geht um Jugendliche, deren Interesse an Musik sich u.a. darin ausdrückt, dass sie das Internet für musikbezogene Aktivitäten nutzen. Zunächst soll dargestellt werden, worin wir dieses Interesse an Musik ganz generell begründet sehen, um dann Formen jugendlichen Umgangs mit Musik im Internet zu analysieren.
In der Literatur finden sich diverse Auflistungen zur Funktionalität von Musik, von denen hier vier beispielhaft aufgeführt sind:
Hafen (1992 56-60; 1993, 213-220)     Baacke (1997, 35)     Bastian (1989, 181ff)


Hafen
(1992 56-60; 1993, 213-220)
Baacke
(1997, 35)
Bastian
(1989, 181ff)
Münch/Müller-

Bachmann/
Bommersheim 1999

1. sozialpsychologisch die
sozialpsychologische Funktion de Identitätsbildung in der Frage
nach Authentizität
Kommunikativ-soziale
Funktionen
Distinktion
/ Abgrenzung
2. affektiv Affektive
Komponenten wie Begeisterung, Freude, Kompensation (..)
Emotional-psychische
Funktionen
Affektkontrolle
3. psycho-physiologisch „Psycho-physiologische
Intensität und die Bedeutung des Körpergefühls;
Körperorientierung
4. intellektuell Sinn-Dimension,die
Ebene der Deutung(3)
Funktionen
des Selbstausdrucks, der Persönlichkeitsfindung, der Persönlichkeitsentfaltung
Autonomie
/ Lebensstilorientierung
5.

Ästhetisch-intellektuelle
Funktionen
Musikästhetische
Erfahrungen
6.

Zweckrationale,
pragmatische Funktion

Während die Systematiken von Baacke und Hafen überwiegend auf Literaturauswertungen basieren, sind die von Bastian und Münch/Müller-Bachmann/Bommersheim Ergebnis empirisch-quantitativer Studien. Bastian befragte Jugendliche, die am Wettbewerb ‚Jugend musiziert‘ teilnahmen, also sich intensiv mit Kunstmusik beschäftigt haben, während die Ergebnisse der zweiten Studie auf der Befragung von 200 Jugendlichen mit popularmusikalischen Interessen basiert.

Beim Vergleich der verschiedenen Systematiken – es wurde versucht, in der Tabelle ähnliche Funktionsbereiche nebeneinander zu gruppieren – fallen trotz unterschiedlicher Basis und Erhebungsmethoden einige Parallelen auf. Es finden sich bei allen Autoren sowohl Funktionen, die sich auf die individuell-psychische Funktionsbereiche beziehen, als auch solche, die eher sozial-kommunikative Aspekte betonen. Zugleich wird deutlich, dass sich einige Aspekte wiederfinden, die in der Liste der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter enthalten sind. Wir sehen uns dadurch in der Annahme bestärkt, dass Musik ein Bereich ist, in dem Entwicklungsbedarf bearbeitet werden kann. So ist es z. B. möglich, dass ein Jugendlicher, der sich vor allem mit Peergruppenintegration auseinandersetzt, also Anschluss an einen gleichaltrigen Freundeskreis sucht und halten will, vornehmlich die Musik wertgeschätzt, die auch die (erhofften) FreundInnen wertschätzen.

Unklar ist bislang, welche Funktionsbereiche für die heutigen Jugendlichen von besonderer Bedeutung sind. Die von Baacke und Hafen ausgewerteten Studien beziehen sich überwiegend auf die ‚Rockmusikära‘ der 70er und 80er Jahre und können deshalb nur bedingt auf heutige Verhältnisse übertragen werden. Die aktuelle Studie von Münch/Müller-Bachmann/Bommersheim (1999) zeigt die folgende Rangfolge.

%
Affektkontrolle 1,86(4)
Autonomie /
Lebensstilorientierung
1,09
Körperorientierung 1,00
Distinktion
/ Abgrenzung
,99
Musikästhetische
Erfahrungen
,58

Jugendliche, die Musik zur Bearbeitung von Entwicklungsbedarf nutzen, nennen wir musikorientierte Jugendliche. Musikorientierte Jugendliche unterscheiden sich von solchen, für die Musik ‚irgendwie‘ neben vielen anderen Dingen zum Leben dazugehört. Diese Unterscheidung ist zunächst nur postuliert, da die empirische Überprüfung erst im Sommer 2000 abgeschlossen sein wird.

Arbeiten aus den Bereichen der Musikpsychologie und -soziologie, die sich mit dem Konzept der Entwicklungsaufgaben auseinandergesetzt haben, liegen nach unserer Kenntnis bisher nicht vor. Allerdings finden sich verschiedentlich Bezüge hierauf. Bruhn (1995) erwähnt etwa, dass es hilfreich zum Verständnis jugendlichen Verhaltens im Musikunterricht herangezogen werden könne. In der Studie von Müller/Behne (1996) zur Rezeption von Videoclips finden sich manche Items, die eine gewisse Affinität zum Entwicklungsaufgabenkonzept haben. In einer anderen Studie kann Behne (1997) diesen Zusammenhang zumindest ansatzweise auch empirisch quantitativ zeigen. Ganz ausdrücklich weist Schneider (1996) in ihrer medienwissenschaftlichen Studie zu „Erscheinungsformen jugendlichen Mediengebrauchs“ darauf hin, dass Musik funktional im Sinne des hier diskutierten Forschungsparadigmas sei.

Das Internet

Sozialpsychologische Aspekte

Nach Döring (1999) haben sich in Bezug auf Massenmedien drei Nutzenkategorien herauskristallisiert: 1. Information, 2. Unterhaltung und 3. soziale Identität. Die soziale Identitätsfunktion umfasst dabei „sowohl interpersonale Kontakte (z.B. Medieninhalte als gemeinsames Gesprächsthema…), sozialen Vergleich und soziale Kategorisierung (z.B. Unterstützung der eigenen Meinung durch Mediendarstellungen; Identifikation mit medial repräsentierten sozialen Gruppen) als auch parasoziale Interaktion (z.B. emotionale Bindung an Medienakteure…)“ (ebd. S.157). Bei den Individualmedien (insbesondere Telefon) unterscheide man dagegen zwei primäre Gratifikationsfaktoren: 1. Instrumentalität (d.h. funktionale aufgabenbezogene Kontakte, z.B. Bestellungen aufgeben) und 2. Soziabilität (expressive, sozioemotionale Kontakte, z.B. Kontakte zu Verwandten oder Freunden herstellen und pflegen) (vgl. ebd.).

Sowohl die drei Massenmedien-Gratifikationen als auch die beiden Individualmedien-Gratifikationen können ebenso durch die Nutzung des Internets erlangt werden: „So kann das Lesen von WWW-Seiten und Postings sowohl Information als auch Unterhaltung bieten und der sozialen Identität dienen. Interpersonale Kontakte per Netz können instrumentelle Funktionen erfüllen (z.B. kollegialer E-Mail-Austausch, Mailing-Listen- und MUD-Kommunikation im Rahmen eines Fernkurses) oder auch expressiv-geselligen Charakter haben (z.B. Plaudern und Flirten auf einem Chat-Channel, E-Mail-Freundschaft, Rollenspiel im MUD)“ (ebd.). Als zusätzliche spezifische Netz-Gratifikationen nennt Döring beispielsweise die Möglichkeit sich vor einer großen Öffentlichkeit zu artikulieren oder auch neue Kontakte zu knüpfen. Zudem biete das Netz die Möglichkeit, Gratifikationen in komfortabler Weise zu kombinieren: „So kann die Teilnahme an einer Mailingliste nicht nur unterhaltsam und informativ und identitätsbestätigend sein, sondern auch berufliche und private Kontakte entstehen und erhalten lassen“ (ebd. S.158).

Das Internet ist demnach über seine spezifischen Dienste in der Lage, sehr unterschiedliche Bedürfnisse und Funktionen zu erfüllen. Diese unterschiedlichen Bedürfnisse umfassen sowohl kognitive Aspekte wie Informationssuche- und Verarbeitung, Neugierde und Kompetenzen anwenden und/oder erlangen, handwerklich-technische Aspekte der „PC- und Netzkompetenz“ als auch sozio-emotionale Aspekte wie soziale Interaktion, soziale und personale Identität, Gruppenzugehörigkeit aber auch Unterhaltung. Das Internet kann einem Bedürfnis oder einer Notwendigkeit nach Austausch genauso entsprechen wie einem Bedürfnis nach solitärer Beschäftigung, es kann ebenso zur zielgerichteten Informationssuche verwendet werden wie zum ziellosen Herumstöbern. Ob und in welcher Weise und Absicht das Internet bzw. seine spezifischen Dienste von seinen NutzerInnen tatsächlich benutzt wird, bleibt bei der Betrachtung seiner Gratifikationsmöglichkeiten zunächst außen vor.

Beleuchtet man das Internet aus der Perspektive seiner Nutzen- und Gratifikationsmöglichkeiten wird deutlich, wie gut sich diese in das Konzept der Entwicklungsaufgaben integrieren lassen. Alle Bereiche, denen sich Jugendliche im Laufe ihrer Entwicklung zu stellen haben, können auch (natürlich nicht ausschließlich) in Auseinandersetzung mit sowohl den technischen Möglichkeiten des Internet (hier vor allem: „interaktives Kommunikations-Medium“) als auch den darin verhandelten Themen bearbeitet werden. Geht man zudem davon aus, dass das Internet ein „modernes“ Medium ist, in welchem sich unter anderem der momentane technische und kulturelle Stand der industrialisierten Gesellschaften spiegelt, dann liegt es auf der Hand, ohne allzu ‚netz-euphemistisch‘ zu werden, dass Kompetenzen im Umgang mit dem Internet kulturelle Kompetenzen darstellen, die die Jugendlichen als ‚Next-Generation‘ auf dem Arbeitsmarkt angesichts einer stärker werdenden Globalisierung und Konzentrierung der Märkte auch gut werden gebrauchen können. Dabei ist allerdings einschränkend zu sagen, dass es ohnehin die eher sozial gut integrierten und besonders geförderten Kinder und Jugendlichen aus privilegierten Familien sind, die das Netz nutzen; also solche, die ohnehin einen leichteren Zugang zu Bildungs- und Arbeitsmarktressourcen haben. Die häufig pauschal geäußerten Bedenken und Einwände, dass das Internet soziale Isolation, Einsamkeit und Eskapismus fördere, lassen sich nach neueren Studien in dieser Form nicht halten. Ebenso unsinnig ist allerdings auch die gegenteilige Annahme, das Internet fördere per se Beziehungen, neue Freundschaften und Kontakt (vgl. ausführlicher in Döring 1999, S.315ff).

In welchen Umfang nutzen nun Jugendliche das Netz und welche sind die bevorzugten Internet-Dienste? Laut GFK-Online-Monitor 3. Welle vom Februar 1999(5) nutzen 16% aller 14-19 Jährigen das Internet in dem Sinne, dass sie über einen Access verfügen und gleichzeitig proprietäre Dienste eines Providers und/oder das WWW zumindest gelegentlich nutzen.

Die Reichweite der Online-Nutzung hat damit im Vergleich zu den anderen Altersgruppen bei den 14- bis 19-jährigen im Vergleich zur letzten Befragung überproportional zugenommen. Laut einer Umfrage von Feierabend/Klingler (1997) unter n=800 Jugendlichen im Alter von 12-17 Jahren in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz nutzten 14% das Internet, davon gingen nur 4% mehrmals die Woche ans Netz. In der Altersgruppe der 14-19jährigen nennt die ARD-ZDF-Online-Studie 1999 13% (n=1002).

Genutzte Online-Anwendungen im Altersvergleich
„überhaupt schon genutzt“, in %

Gesamt
14-19
Jahre

Zielloses Surfen im Netz

77
93
Gesprächsforen,
News, Chatten
47
77
Computerspiele
41
77
Versenden
und Empfang von E-mails
89
75
Downloaden
von Dateien
74
66
Radio-/Fernsehprogramm
33
56
Multiuserspiele
20
47
Reiseinfos,
wie Zug-/Flugpläne
71
44
Kleinanzeigen
39
30
Buchbestellungen
31
24
Homebanking
41
14
Grundgesamtheit:
Onlinenutzer ab 14 Jahren in Deutschland (n=1.002) (ARD/ZDF-Arbeitsgruppe
Multimedia 1999, 405).

Die jugendlichen Nutzerinnen und Nutzer widmeten sich bei den Möglichkeiten der Internetnutzung neben dem ziellosen Durchstreifen des Netzes vor allem den unterschiedlichen Formen der computervermittelten Kommunikation wie Chatten , Mailen oder Mudden (Multiuserspiele). Die Bevorzugung dieser Dienste kann durchaus in dem oben angesprochenen Sinne verstanden werden kann, dass gerade das Chatten und Mudden alters- und entwicklungsspezifische Gratifikationen liefert (z.B. im Zusammenhang mit Selbstexploration und Identitätsfindung. Allerdings ist dies noch genauer zu untersuchen (Döring 1999, 151). Daneben luden sich die Jugendlichen häufig Sounddateien oder Programme herunter.

Insgesamt muss dennoch festgehalten werden, dass die Nutzung des Internets als interaktives Kommunikationsmedium im Vergleich zu den konventionellen Computeranwendungen noch am Anfang steht. Für die meisten Jugendlichen ist das Internet „ein Schnuppermedium zum Surfen und noch keine etablierte Computerbeschäftigung“ (Schwab/Stegmann 1999, 256).

Musik und Internet

Sehr viele Medien haben einen hohen Musikanteil. Ob Fernsehen, Radio, Kino oder auch in Zeitschriften, Musik ist immer dabei. Wie die Musik wahrgenommen und mit ihr umgegangen wird, hängt u.a. davon ab, welcher Gebrauch der Musik intendiert ist, wo die Musik rezipiert wird und welche strukturellen Gegebenheiten das jeweilige Medium hat. Jedes Medium begünstigt bzw. erschwert jeweils spezifische musikalische Umgangsweisen. Und umgekehrt wird die Vorstellung darüber, was das Spezifische eines Mediums ausmacht, in Abhängigkeit davon, wie wichtig seine Musik ist, sich unterschiedlich darstellen. Auf das Internet bezogen heißt das: Nur wer sich für Musik interessiert, wird das Internet als ein Medium mit hohem Musikanteil erleben. Andernfalls werden die musikbezogenen Sites einfach nicht besucht und die Möglichkeiten der Audioübertragung nicht genutzt.

Für Internetnutzer ist seit den Anfängen des Mediums das Thema Musik präsent (Münch 1996b). Hier wird besonders deutlich, dass der Umgang mit Musik weit mehr als nur ‚Musikhören ist(6) . Lange bevor die Übertragung von Audioereignissen möglich war, die noch heute nur einen geringen Teil des Umgangs mit Musik im Internet ausmacht, war die Darstellung eigener Interessen und der kommunikative Austausch über Musikstile und Interpreten, das Sammeln von Informationen oder auch einfach nur das Treffen mit Gleichgesinnten im Cyberspace populär. Neben einer Unzahl von Sites zur Populären Musik finden sich aber auch alle anderen Musikrichtungen (Internet [Themenheft] 1997). In Hunderten von Newsgroups werden musikbezogene Themen diskutiert oder einfach auch nur der brandaktuelle Klatsch ausgetauscht. Neuerdings ist die Verbreitung von MP3-Songs hinzugekommen(7).

Verschiedene Gründe sind dafür verantwortlich, dass Musik im Internet thematisiert wird:

1. Musik ist ein Vorreiter der Globalisierung. Seit den 50er Jahren kennen und lieben vor allem westlich orientierte (Jugend)-Kulturen dieselben großen Musikströmungen. Es gibt wohl nur wenige Menschen in der Welt, die so bekannt sind wie etwa Michael Jackson. Ikonen der Popkultur und bestimmte Musikstile durchbrechen müheloser als anderes kulturell bedingte Grenzen. Sie werden damit zum idealen Bezugspunkt für eine globale Kommunikation im Internet.
Die Musikindustrie hat diese Entwicklung schnell erkannt und forciert, indem sie ihre Produkte im Internet bewirbt und inzwischen auch vertreibt. Neben den multinationalen Firmen sind auch kleine Labels und Selbstproduzenten mit ihren Angeboten präsent, in der Hoffnung, dass irgendwo im Netz‚ schon ein paar Liebhaber ihrer Musik zu finden sein müssten.

2. Viele Bereiche der populären Musik sind besonders der Aktualität verpflichtet. Welche Musik ist neu, welche Titel stehen gerade an der Spitze der Beliebtheit, oder noch spannender, welche werden demnächst an die Spitze gelangen, diese Fragen sind vor allem für Jugendliche von großem Interesse (Münch 1996a). Da bietet sich das Internet als ein Medium, das selbst als modern und schnell gilt, fast von selbst an.

3. Die Nutzung des Internets wird erheblich erleichtert, wenn ein gewisses Interesse und ein Spaß an technischen Zusammenhängen gegeben ist. Schließlich erklärt sich seine Nutzung nicht von selbst. Besonders in der populären Musik ist die Nutzung neuesten Technologien ein selbstverständlicher Bestandteil. Dies gilt zunächst für die Produktion, aber auch auf der Rezeptionsseite ist der Spaß an Technologie recht ausgeprägt(8).

4. Wie oben angesprochen, ist der Umgang mit Musik ein aktiver Prozess. Besonders im Bereich der populären Musik sind die Grenzen zwischen Produzenten und Rezipienten fließend (Fiske 1992). So kann etwa ein Rockkonzert nur gelingen, wenn alle aktiv sich an seiner Gestaltung beteiligen. Ein schweigendes, still sitzendes Publikum im Konzert wäre der Ausdruck völligen Scheiterns (Hafen 1993). Das Medium Internet bietet durch seine Interaktivität viele Möglichkeiten, aktiv zu werden. Vom ziellosen Herumsurfen, über den Aufbau einer eigenen Homepage bis hin zu Teilnahme an Chats und Mail-Lists, kann das Maß des persönlichen Einbringens individuell gestaltet werden.

Dieser kleine Aufriss muss hier genügen, um zu zeigen, dass Musik im Internet von Bedeutung ist.
Die nachstehende Grafik fasst die bisherigen Ausführungen und theoretischen Setzungen nochmals zusammen. Sie zeigt, dass der Entwicklungsbedarf durch den Umgang mit Medien bearbeitet werden kann. Dabei sind nicht alle in den Medien präsenten Themen gleichermaßen von Bedeutung und es werden jeweils bestimmte Bearbeitungsfelder gewählt, die hier durch das Feld ‚Umgang mit Musik‘ und mehrere Platzhalter angedeutet sind.

Forschungsparadigma

Musikorientierte Jugendliche im Internet – zwei Beispiele

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass das Medium Internet durchaus für musikorientierte Jugendliche von Interesse sein kann, um dort ihren Entwicklungsbedarf zu bearbeiten. Wie sich dies konkret gestalten kann, soll nun am Beispiel von zwei Entwicklungsaufgaben gezeigt werden. Die Beispiele erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität, was angesichts der Vielzahl ungelöster Forschungsfragen von Online-Research auch gar nicht möglich wäre (Batinic/Graef/Lorenz/Bandilla 1998), sondern sind allein unter dem Aspekt der Anschaulichkeit gewählt und haben explorativen Charakter. Zudem verbietet die unüberschaubare Fülle an musikbezogenen jugendkulturellen Aktivitäten im Netz mit ihren innerhalb der einzelnen Szenen starke Differenzen jede einfache Generalisierung. Es gilt hier in besonderem Maße, was Vogelgesang als Charakteristikum medialer Derivate von Jugendkulturen benennt:

„Wie in allen Jugendkulturen gibt es auch in ihren medialen Derivaten intraszenische Differenzierungen und gestufte Formen des Involvements, die vom Novizen über den Touristen und Buff bis zum Freak reichen. Den unterschiedlichen Karriereabschnitten korrespondieren dabei differentielle Lernsysteme und -erfahrungen, wobei die anfänglich unsystematischen Versuchs-Irrtums-Strategien nach und nach von gerichteten und bewussten Formen des Lernens abgelöst werden (‚selbstsozialisatorisch-reflexive Medien- und Lernkarriere‘)“ (1999, 240).

Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, dass u. W. bislang kaum Studien vorliegen, die sich speziell unter dem Gesichtspunkt musikbezogener Aktivitäten mit jugendlicher Internetnutzung auseinandersetzen. Aus musikwissenschaftlicher und -pädagogischer Perspektive werden vor allem musikindustrielle und künstlerische Angebote(9), sowie Möglichkeiten der Materialbeschaffung für den Unterricht untersucht.

Identitätsentwicklung / Lebensstilorientierung

Der Begriff der Identitätsentwicklung ist sehr umfassend und wird alles andere als einheitlich und klar verwendet. Er kann hier nicht in wenigen Worten ausreichend umrissen werden. Allerdings lässt sich grob ein der Psychologie und Soziologie gemeinsamer Bedeutungskern herausschälen: „Die Definition einer Person als einmalig und unverwechselbar durch die soziale Umgebung wie durch das Individuum selbst“ (Oerter/Montada 1987 296). Identität beinhaltet mindestens zwei Komponenten: „Die Person, für die man sich selbst hält, und die Person, für die einen andere halten“ (ebd.). Gelten in diesem eher traditionellen Verständnis Dauerhaftigkeit und Einheit als zentrale Komponenten, so fokussieren neuere Identitäts-Konzepte auf Veränderung und Vielfalt. Teil-Identitäten bilden eine fluide, komplexe Struktur, in welcher, in Abhängigkeit von den konkreten Situationen, jeweils Aspekte bzw. Teil-Identitäten, aktiviert werden(10).

Seit Erikson (1968) gilt die Entwicklung der Identität als die zentrale Entwicklungsaufgabe im Jugendalter. In dieser Lebensphase können sich die Heranwachsenden von der kognitiven und emotionalen Entwicklung her verstärkt selbst bestimmen als jemand, der oder die viele Eigenschaften, Interessen oder Aufgaben mit anderen gemein hat, sich aber auch in wesentlichen Punkten von den anderen unterscheidet. Teilhabe und „Besonderung“ bzw. Individuation sind hier wesentliche Stichworte. Gleichzeitig mit der Fähigkeit zu dieser Erkenntnis wächst der Druck, sich mit sich selbst, der eigenen Zukunft und den Anforderungen der Gesellschaft (Eltern, Peers, Schule, Beruf) auseinander zu setzen. Dazu kommen die körperlichen Veränderungen während der Pubertät, die eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtlichkeit notwendig machen. In vielfältiger Weise sind die Jugendlichen gefordert, sich mit sich, ihrem Verhältnis zur Welt und umgekehrt, dem der Welt zu ihnen, zu befassen. Die Beschäftigung mit Musik im Kontext Internet kann dabei für die Entwicklung musikorientierter Jugendlicher funktionale Bedeutung im o.g. Sinne erlangen, wie das Beispiel ‚Homepage‘ zeigt.

Heute gehört selbstverständlich zur eigenen Emailadresse die Zuweisung von einigen Megabit Webspace durch den Provider. Die beliebteste Art ihrer Nutzung ist sicherlich die Erstellung einer eigenen Homepage, auf der Informationen über ihren Besitzer enthalten sind. Dieses

„Selbstportrait kann so unterschiedlich ausfallen wie es die Personen, Organisationen oder Unternehmen sind, die die Homepage betreiben, und die Zwecke, denen sie dient. Bei privaten Seiten lassen sich grob zwei Motive unterscheiden: viele entstehen aus dem Spaß oder der Notwendigkeit heraus, (auch) im Netz eine persönliche Duftmarke zu setzen, andere werden zur Veröffentlichung von nützlichen, politischen, etc. „Inhalten“ oder für gemeinsame Aktivitäten genutzt. Elaborierte, mit den neuesten HTML-Features versehene Kreationen aus Text, Bild und Ton stehen Seiten gegenüber, die nur das nötigste bieten – ein paar Angaben zur Person, ihrer Tätigkeit und eine Liste von bevorzugten Links. Manche Seiten präsentieren sich steif und formell, andere geben bis an die Grenze der Peinlichkeit Auskünfte über persönliche Lebensumstände und Dramen.
(…)
Wie die eigene Wohnung oder das eigene Haus spiegelt die Homepage die Konstruktion einer Identität (Hervorhebung durch die Autoren) durch die Anordnung von selbst hergestellten oder erworbenen, funktionalen und dekorativen Objekten. Solche bedeutungsvollen Objekte können persönlicher Art sein wie eigene Fotos und selbstverfasste Texte. Auch Hyperlinks haben häufig einen persönlichen Bezug, beispielsweise zum Wohnort oder zum Hobby der Autorin. Manche Objekte dienen dem Gebrauch wie etwa der Link zu einer Suchmaschine. Solche Objekte können sich als Hilfsmittel für den Eigentümer der Homepage oder als Angebot an die Besucherin der Seite darstellen – wie der eigene Stuhl, den man einem Gast anbietet.“ (Hoffmann 1998).

http//www.uni-karlsruhe.de/ unet/index.html

Auf vielen Homepages, die über eine sachlich, funktionale Darstellungen hinausgehen, finden sich Hinweise auf Musik, eingebundenen in eine Vielzahl von Verweisen in andere Lebensbereiche. Die Darstellung der eigenen Musikpräferenzen auf einer Homepage ist der Versuch, mit Hilfe von Musik sich selbst sozial zu positionieren, um so Aussagen über die eigene Identität zu machen. Ähnlich wie in nicht wenigen Heiratsanzeigen die eigenen Musikvorlieben genannt werden, um das Bereiche eigenen emotionalen Wohlerlebens zu charakterisieren und damit deutlich zu machen, welche Art von gemeinsamen Erlebnissen mit einem neuen Partner gesucht werden (Reu 1995), dient auch die Darstellung der eigenen Musikpräferenzen auf Homepages.

Die über die Musik vermittelten Botschaften können sehr persönlicher Natur sein, was natürlich auch stark von der Form der Darstellung abhängt. Während bei Heiratsannoncen nur geringer Raum zur Verfügung steht, sind die Möglichkeiten der Darstellung im Internet sind groß. Über die bloße Nennung wie hier auf Bubu’s Homepage bis hin zu umfänglich gestalteten Fansites reicht das Spektrum. Aus dem Ausmaß des Engagements kann wiederum auf das Maß der Musikpräferenz-Ausprägung geschlossen werden. Wenn gewisse Service-Angebote gemacht werden, in dem etwa Link-Listen oder speziellen Informationen rund um ein Musikthema angeboten werden, kann dies als ein weiteres Angebot verstanden werden, sich mit den Fähigkeiten und Meinungen des Homepage-Besitzers intensiver zu beschäftigen.

Musikorientierte Jugendliche können also das Internet nutzen, um sich selbst mit ihren jeweils besonderen Fähigkeiten und Präferenzen darzustellen. Indem sie beispielsweise mit ihren musikalischen Vorlieben ‚an die Öffentlichkeit‘ treten, ‚besondern‘ sie sich einerseits als Individuen mit je eigenen und speziellen Orientierungen, andererseits ‚outen‘ sie sich damit gleichzeitig als zugehörig zur Subkultur derjenigen, die ihren Geschmack teilen und leben (z.B. HipHop-Kultur, Rap-Kultur). Damit werden in einem Schritt sowohl Abgrenzung und Besonderung als auch Teilhabe bzw. Zugehörigkeit deutlich gemacht. Beides sind zentrale Aspekte der Entwicklung eines eigenen Identitätskonzepts.

Ist der oder die Jugendliche darüber hinaus Mitglied einer Fangemeinde im Netz, einer Newsgroup oder besucht regelmäßig einen der musikspezifischen Chat-Rooms, so hat er oder sie im Idealfall dort nicht nur die Möglichkeit sich seiner (Teil-)Identität beispielsweise als Fan einer bestimmten Gruppe oder eines Star zu vergewissern und über seine virtuellen Gegenüber Bestätigung zu finden, er kann darüber hinaus den Status eines Experten oder einer Expertin (‚Hero‘) erlangen, welches wiederum positiv bestätigend auf seinen oder ihren Identitätsentwurf auswirken wird. Angesichts der Vielzahl von musikspezifischen Rubriken im Netz oder der Existenz von ‚Special-Interest-Netzen‘ wie ‚Musicnet‘, dürfte der Aspekt der Selbstbestätigung, neben informativen, fachlichen oder unterhaltsamen Aspekten, für musikorientierte Jugendliche im Netz keine unwesentliche Rolle spielen. Dies zeigen ebenfalls diejenigen Foren, in denen sich ausschließlich Musiker oder Musikerinnen zu unterschiedlichen Aspekten des Musikmachens (Probleme, EDV-Software, elektronische Musik usw.) austauschen (vgl. dazu Wetzstein et al., 1995, S.171f)

Peergruppenintegration

Der Wunsch, sich mit Gleichaltrigen zusammenzuschließen ist ein typisches Moment jugendlicher Entwicklung. Eine Peergruppe kann der in der Schule entstandene Freundeskreis ebenso sein wie die virtuellen Gemeinschaften oder Kleingruppen im Netz. Diese Gruppen erfüllen für die Jugendlichen die unterschiedlichsten Funktionen, als Stichworte wären hier unter anderem zu nennen: soziale Unterstützung, Ablösung vom Elternhaus, Wir-Gefühl, Vermittlung sowohl gruppeninterner wie sozialer Werte und Normen, Abgrenzung und Distinktion aber auch Austausch von Wissen und Informationen über gemeinsame Interessen, Verortung in der eigenen spezifischen (Sub-)Kultur usw. (Sander 1999)

Ebenso wie zur Identitätsentwicklung des einzelnen kann das Internet für musikorientierte Jugendliche einen originären Beitrag zur Peergruppenintegration leisten. Insbesondere die Möglichkeit der schnellen und unkomplizierten Vernetzung und Kontaktaufnahme zu anderen Jugendlichen mit ähnlichen Interessen oder Schwerpunkten im IRC (Internet-Relay-Chat) und dort angesiedelten speziellen Musikkanälen erleichtert das Finden und Treffen Gleichgesinnter. Einige Orte sind sehr berühmt geworden, wie etwa das ‚Well‘, wo sich die Fans der Gruppe Grateful Dead trafen (Barlow 1995). Ein beliebter Treffpunkt für musikorientierte Jugendliche sind die zahllosen Newsgroups und Mailing-Lists mit musikbezogen Themen, in denen über alles und jedes gesprochen wird. Bald sind die Teilnehmer einer Liste miteinander vertraut und Anerkennung wird u.a. durch die Originalität und Kompetenz der Beiträge errungen.

Diese virtuellen Gemeinschaften können mehr oder weniger stabil über lange Zeiträume bestehen bleiben, wobei ihre Mitglieder von einem ausgeprägten Wir-Gefühl getragen sind. Nicht selten entstehen daraus Bedürfnisse nach richtigen Face- to Face-Kontakten, sodass von diesem Gemeinschaften Treffen, Parties oder sogar regelmäßige Stammtische organisiert werden, welche wiederum verstärkend auf den Gruppenzusammenhalt wirken(11).

Über den Alltag in solchen Gemeinschaften berichtet Watson, der zwei Jahre eine Online-Fan Gemeinschaft mit 50.000 Beteiligten, das ‚Phish.Net‘, beobachtete um festzustellen, „that those youth formed a community which created not only individual benefits for participants but also a group strength which enabled them to alter the routines of the music industry and to help launch a new category of music in American culture“ (1997, 102). Auch Bruns zeigt am Beispiel von Progressive- Rock-Fans, die recht früh schon im Internet präsent waren, dass unter den Bedingungen des neuen Mediums „subcultures now have the ability to establish themselves to a large extent as institutions in their own right and in their own spaces“ (1998, 4 Bit 20).

Die beiden genannten Studien, die u. E. die einzigen sind, die sich bislang intensiv mit Musikkulturen im Netz auseinandersetzen, haben keinen entwicklungstheoretischen Ansatz, sondern blicken aus einer kommunikations- bzw. kulturtheoretischen Perspektive. Doch lässt sich zwischen den Zeilen herauslesen, dass diese Gemeinschaften eine Vielzahl von für die jugendliche Entwicklung wichtige Erfahrungen ermöglichen.

Weitere Orte zur Konstitution von Gemeinschaften sind musikbezogene WWW-Projekte.

http://www.muse.com.au/org/scofa/start.html

Sie sind einerseits Bestätigung und Vergewisserung der eigenen musikkulturellen Verortung und andererseits durch ihre Präsenz im Netz auch Zeichen, mediales Symbol und damit ein Ort, an dem sich Angehörige dieser Kulturen gruppieren können. Fast jede Musikszene von HipHop über Schlager bis hin zu einzelnen InterpretInnen hat ihre eigenen Treffpunkte. Nicht nur haben Musikszenen im Netz bessere und breitere Veröffentlichungsmöglichkeiten auch umgekehrt haben die musikorientierten Jugendlichen leichteren Zugang zu den sie interessierenden Orten, Gruppen und Informationen. In dieser Weise kann das Internet für Jugendliche einen Beitrag zur Peergruppenintegration leisten.

Fazit

Beim Blick auf die musikbezogenen Aktivitäten im Internet finden sich die aus dem „offline“ vertrauten musikalischen Themen und Umgangsweisen von musikorientierten Jugendlichen wieder. Es ist das Bemühen spürbar, das Spektrum der Ausdrucksmöglichkeiten nach dem Vorbild der „offline-Erfahrungen“ mit Musik möglichst breit zu gestalten, gepaart mit der Neugier, die neuen Möglichkeiten des Mediums produktiv einzubinden. Neben den vertrauten Formen haben sich medienspezifische Formen der Aneignung heraus, wobei besonders die interaktiven Möglichkeiten des Mediums genutzt werden.

Bislang bleiben jedoch viele Fragen offen. Hier sind vor allem zu nennen:

*
In welcher Weise bietet das Medium Internet einen originären Beitrag für musikorientierte Jugendliche, Entwicklungsbedarf zu bearbeiten?
*
Welche musikorientierten Jugendlichen nutzen das Medium Internet zur Bearbeitung ihres Entwicklungsbedarfs?
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Welcher Entwicklungsbedarf von musikorientierten Jugendlichen führt zu welcher Form der Internetaneignung?
*
In welcher Lebensphase ist das Internet in der Konkurrenz zu anderen Medien für musikorientierte Jugendliche besonders attraktiv, um Entwicklungsbedarf zu bearbeiten?

Wir hoffen durch unsere empirisch-quantitative Studie ‚Jugendsozialisation und Medien. Zur Entwicklungsfunktionalität der Medienaneignung im Jugendalter am Beispiel Hörfunk, Musikfernsehen und Internet‘, die im Sommer 2000 abgeschlossen sein wird, einen tieferen Einblick in die vermuteten Zusammenhänge von Entwicklungsbedarf musikorientierter Jugendlicher und Internetnutzung zu erlangen. Wenn sich unsere hier skizzierten Überlegungen auch empirisch-quantitativ bestätigen lassen und wir erste Antworten auf die zuletzt formulierten Fragen finden, sind wir der Überzeugung, dass sich hieraus vielfältige Anregungen für die medienpädagogische Praxis ergeben. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass musikorientierte Jugendliche, die mit Hilfe des Internets ihren Entwicklungsbedarf bearbeiten, nur einen kleinen Teil der jugendlichen Internetnutzer ausmachen werden. Insgesamt ist das Internet im Vergleich zu den Medien Radio und Musikfernsehen, die ebenfalls Teil unserer Studie sind, ein musikfernes Medium.

Quellen

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Hafen (1992 56-60; 1993, 213-220) Baacke (1997, 35) Bastian (1989, 181ff) Münch/Müller-
Bachmann/Bommersheim 1999
1. sozialpsychologisch die sozialpsychologische Funktion de Identitätsbildung in der Frage nach Authentizität Kommunikativ-soziale Funktionen Distinktion / Abgrenzung
2. affektiv Affektive Komponenten wie Begeisterung, Freude, Kompensation (..) Emotional-psychische Funktionen Affektkontrolle
3. psycho-physiologisch „Psycho-physiologische Intensität und die Bedeutung des Körpergefühls; Körperorientierung
4. intellektuell Sinn-Dimension,die Ebene der Deutung(3) Funktionen des Selbstausdrucks, der Persönlichkeitsfindung, der Persönlichkeitsentfaltung Autonomie / Lebensstilorientierung
5. Ästhetisch-intellektuelle Funktionen Musikästhetische Erfahrungen
6. Zweckrationale, pragmatische Funktion

Erika Funk-Hennigs: Abgrenzung oder Anpassung?

4.09.2000

Musikalische und politische Wandlungsprozesse innerhalb einer Jugendkultur – dargestellt an der Skinheadszene.

Die Ursprünge der Skinheadbewegung in den sechziger Jahren

Die jugendkulturellen Wurzeln der Skinheads gehen auf die Arbeiterviertel der britischen Großstädte der 60er-Jahre zurück. Das nach dem 2. Weltkrieg auch in Großbritannien erfolgte Wirtschaftswunder war in den Großstädten mit Sanierungsphasen verbunden, die die Strukturen der alten Arbeiterviertel zerschlugen. Die traditionelle Einheit von Wohnen, Arbeiten und Freizeitgestaltung konnte nicht länger aufrecht erhalten werden. In die heruntergekommenen Billigwohnungen zogen Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien ein, was eine grundlegende Änderung der Infrastruktur zur Folge hatte.

Die Arbeiterklasse fühlte sich dieser Situation gegenüber ohnmächtig und empfand die Fremden nur als unerwünschte Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt.

Die Jugendlichen dieser „Working Class“ identifizierten sich mit ihrer Herkunft, betonten z.B. gegenüber den Mittelschichtjugendlichen bewusst männliche Härte, die sie nicht nur durch ihr Outfit, sondern auch durch ihre Körpersprache und ihr rüdes Verhalten auf den Straßen und in den Kneipen zum Ausdruck brachten. Das Übertreten von Gesetzen und bürgerlichen Verhaltensregeln stellte eine normale Bewältigung des Alltags dar, der oft genug langweilig war und durch entsprechende Provokationen aufgewertet wurde. 14 – 17 jährige Jungen versammelten sich auf den Straßen und versuchten durch ungeplante, wenig zielgerichtete Randale der Langeweile zu entfliehen.
Als leidenschaftliche Fußballfans stellten die Skins der ersten Generation bereits den Kern der gewaltbereiten Szene in den Stadien dar. Neben der Lust auf körperliche Konfrontation und Angstüberwindung standen z.B. bei Straßenschlachten, in denen vorwiegend vermeintlich Schwule, Pakistaner und Afrikaner verprügelt wurden, Überlegungen im Vordergrund, ihre Straßen von Fremden und Andersartigen „rein“ zu halten. Mit Tätowierungen, kurz geschorenen Haaren, Doc Martens Stiefeln (anerkannte Arbeitskleidung, billig zu erstehen) und über Hemden oder T-Shirts getragenen Hosenträgern, später auch Bomberjacken, signalisierten sie ein proletarisches Außenseitertum, das sich bewusst von den smart gekleideten Mittelstandsjugendlichen abhob.

Klaus Farin interpretiert dieses „Skinhead-Way-of-life“-Verhalten als den verzweifelten Versuch, die guten und einfachen alten Zeiten wieder zurückzuholen. Ihr Protest sei nicht zukunftsorientiert, sondern auf das Bewahren der alten und vertrauten Sicherheiten und Werte bedacht (Farin 1997,23).
Working Class bedeutete demnach die Glorifizierung körperlicher Arbeit und die Pflege traditioneller Männlichkeitsrituale, eingeschlossen die Vorstellung von der untergeordneten Rolle der Frau (Farin 1997, 24).

Ausländerfeindlichkeit

Die Ausländerfeindlichkeit der Skins richtete sich nicht gegen alle Einwanderer. Die Jamaicaner aus der Karibik wohnten in denselben Arbeitervierteln, und ihre Jugendlichen, auch „Rude Boys“ genannt, mussten sich mit ähnlichen Problemen wie die Skins herumschlagen. Sie organisierten sich in harten Gangs, deren Durchsetzungsvermögen den Skins imponierte. Hinzu kam die aus Jamaica importierte Musik, der Ska, der der Rockmusik des Mainstreampublikums total zuwider lief.

Die Musik zeichnete sich durch eine starke Hervorhebung unbetonter Taktteile durch Lautstärke-Akzente und die Verwendung von Blechbläsern in der Rhythmusgruppe aus und vereinigte Elemente des Rhythm&Blues New Orleanscher Prägung, der afrikanischen Musik, des Calypso und des Mento (vgl. Halbscheffel, Kneif 1992, 312).
Die vielen Gemeinsamkeiten zwischen den „Rude boys“ und den Skins führten dazu, dass die Skins die Ska-Musik als Außenseitermusik für sich akzeptierten. Sie galt in der Mainstreamszene als primitiv und unprofessionell und war darüber hinaus nicht in jedem Plattenladen zu erstehen. Wer die neuesten Aufnahmen besitzen wollte, musste häufig Kontakte zu den Jamaicanern knüpfen, die den Import der westindischen Musik überwachten. Auf diese Weise gelangen Absetzungsstrategien gegenüber anderen britischen Jugendkulturen wie Mods, Teds, Rockern und Poppern nicht nur über das Outfit, sondern auch über die musikalischen Vorlieben.
Zahlreiche Ska-Musiker, die sich und ihre Musik durch das weiße Publikum der Skins aufgewertet fühlten, schrieben eigene Songs für die weißen Fans wie z.B. „Skinheads, A Message To You“ von Desmond Riley oder „Skinhead Revolt“ von Joe the Boss oder „Skinhead Train“ von Laurel Atkin (Farin 1997, 27).

Die erste Generation der Skins aus den 60er-Jahren überlebte ihr Image nicht lange, da die meisten ihrer Anhänger bald den wechselnden Musikmoden hinterherliefen. Als Ergebnis dieser Phase bleibt festzuhalten, dass die musikalische Ausrichtung der Skins zwar eine Abgrenzung gegenüber der Mehrheit der Jugendlichen darstellte, andererseits aber eine Anpassung an eine vorgegebene Stilrichung, in diesem Fall der Außenseitergruppe der Jamaicaner, vornahm. Eine eigene musikalische Ausdrucksweise, die die Ideale und Lebensgewohnheiten der Skinsheads widergespiegelt hätte, war noch nicht vorhanden.

Die Außenseiter wechseln die Fronten

Mitte der siebziger Jahre machte eine neue Jugendkultur in Großbritannien Furore, die auf die Musikkultur der Skinheads entscheidenden Einfluss nehmen sollte, der Punk. Mit ihrem Outfit demonstrierten diese Jugendlichen eine Art Müllkultur, Anarchie als Lebensstil und Revolte gegen das Establishment waren an der Tagesordnung. Die Musik setzte sich bewusst gegen die inzwischen hochstilisierten Klangdemonstrationen und elektronischen Rockmusikschowen ab, in dem auf einfachste Stilmittel zurückgegriffen und mit drei Akkorden ihre Weltanschauung zum Ausdruck gebracht wurde wie z.B. in „Anarchy In The UK“ von den Sex Pistols. Die Stilrichtung wurde sehr bald von der Mode- und Musikindustrie aufgesogen, so dass der Punk zum Modepunk verkam.
Einige Fans der ersten Stunde, die sich mit dieser Entwicklung nicht abfinden wollten, erinnerten sich an den Skinheadkult der sechziger Jahre und versuchten, ihr Outfit dieser Richtung anzupassen. Der Musikstil des Punk blieb erhalten, allerdings wurden die Songs härter und schneller und im Text und der musikalischen Gestaltung noch einfacher. Der Manager der Band Cockney Rejects gab dieser Musikrichtung den Namen OI!, ein Begriff, der nicht nur von der Band in ihren Songs verewigt wurde, sondern bald bei allen Skinkonzerten als Anfeuerungsruf OI!OI!OI! anstelle von „one, two three“ verwendet wurde. Auf den Straßen und in den Fußballstadien galt er als Erkennungsmerkmal, als Schlachtruf der Skins, der die Stimmung der Gruppe anheizen sollte.

Im Hinblick auf die Kultur der Skinheads erschien dieser Musikstil als sehr viel angemessener, da in der musikalischen Aufmachung männlicher als die Ska-Musik (vgl. Farin 1997, 48). Mit der neuen musikalischen Stilrichtung ging bei einigen Skins auch ein politischer Einstellungs- bzw. Orientierungswechsel einher. Aufgrund der bei vielen Betroffenen inzwischen eingetretenen Arbeitslosigkeit entwickelte sich zunehmend Fremdenhass, der sich in rechtsradikalen Parolen, die zum Teil auch in den Songtexten aufgegriffen wurden, entlud. Zwei rechtsradikale Parteien, das British Movement und die National Front machten sich die Situation zunutze und versuchten, viele Skins für ihre rechtsextremen Ideen zu begeistern (vgl. Funk-Hennigs 1994, 49). Ihnen kam die aggressive Haltung der Jugendlichen sehr entgegen. Sie versuchten, das vorhandene Gewaltpotential für ihre eigenen politischen Aktionen auszunutzen, in dem sie Skinheads bei ihren Parteiveranstaltungen als Saalordner anheuerten. Auf diese Weise wollten sie sich vor antifaschistischen und antirassistischen Demonstranten, die zum Boykott dieser Veranstaltungen aufriefen, schützen. Als Gegenleistung erhielten viele Skinheadbands die Möglichkeit, ihre Musik auf dem eigens dafür geschaffenen Plattenlabel „White Noise Record“ aufzunehmen und zu vermarkten. Obwohl einige Bands diese Gelegenheit dankbar wahrnahmen, waren jedoch die wenigsten bereit, sich wirklich politisch zu engagieren. Ein Beispiel für gelungene Beeinflussung ist Ian Stuart Donaldson, der Bandleader der Gruppe Skrewdriver. Er gehörte zu den Ersten und bekanntesten rechtsextrem organisierten Skins, die auf die Angebote der National Front eingingen und versuchten, mit ihren rassistischen Songs die gesamte Szene mit ihrem Gedankengut zu infiltrieren.

Der Ruck nach rechts

Der Ruck nach rechts rief sehr bald auch Gegner auf den Plan. Es organisierten sich viele Skins unter dem Motto „Rock against Racism“, um ihre Zugehörigkeit zu der Anti-Nazi-Liga zu demonstrieren. Die Gruppe Sham 69 ist ein Beispiel dafür, dass Musiker selbst keine rechtsradikalen Parolen vertraten, aber eine OI!-Musik produzierten, die einen Großteil des rechtsextrem orientierten Skinheadpublikums anzog. Bei öffentlichen Konzerten kam es häufig zu Schlägereien, da auch die Roadies der Gruppe dem British Movement nahe standen und die Stimmung in Hinblick auf Nazi-Parolen anzuheizen versuchten. Die Medien sorgten in der Öffentlichkeit allerdings dafür, dass die Grundhaltung der Mehrheit der Skinheads in ein falsches Licht gerückt wurde.

Die eigentlich unpolitische Haltung der Mehrheit wurde total verkannt, stattdessen die Gewalttaten grundsätzlich mit rechtsextremistischen Einstellungen von einer Minderheit von Skins in Verbindung gebracht. OI!-Musik galt hinfort als „Rechtsrock“ oder als „White-Power-Music“. Unterstützt wurde diese Vorstellung von dem Slogan Gary Bushells, der den zweiten Sounds-Sampler der OI!- Musik mit dem Spruch „Strength Thru OI!“ titulierte und damit bewusst eine Assoziation zu der Naziparole „Kraft durch Freu (oi)de“ hervorrief. Hatte die erste Generation von Skins sich Musik einer anderen Kultur zu Eigen gemacht, mit deren Hilfe sie sich von der Mittelschicht absetzen konnte, fand die zweite Generation über den Punk zur OI!-Musik und damit zu einem eigenen, für sich angemessenen Ausdrucksmittel, welches in seiner Diktion Härte, Männlichkeit und vor allem Aggressivität wiedergab.
In den Songs kamen Probleme, Gedanken und Gefühle zum Ausdruck, mit denen sich viele der Skinheads identifizieren konnten. Die Skinheadmusik, nun bekannt als OI!-Musik, konnte nun als identitätsstiftender Faktor angesehen werden. Es gab allerdings noch einen anderen Grund für den Wechsel der Musikstile zwischen der ersten und zweiten Generation. Der von den Jamaicanern eingeführte schnellere Ska war inzwischen vom langsameren Reggea abgelöst worden. In dieser stark religiös orientierten Musik besannen sich die Jamaicaner wieder auf ihre eigenen schwarzen Wurzeln. Afrikaner und andere Schwarze riefen bei vielen Skins jedoch Fremdenhass hervor, so dass diese Musik nicht länger als Identifikationsobjekt für ihre Einstellungen und Abgrenzungen gegenüber anderen gelten konnte.

Skinheads in Deutschland

Wenn auch die erste Generation von Skinheads in Deutschland als weitgehend unpolitisch zu bezeichnen ist, war durch den Einfluss der von Egoldt vertriebenen britischen Bands ein Rechtsruck unübersehbar. Der Hang zu Gewalt nahm Mitte der achtziger Jahre enorm zu und machte sich zunächst in den Fußballstadien bemerkbar, eine Erscheinung, die bereits von den britischen Vorbildern bekannt war. Entgegen der Medienpolitik, die Ende der achtziger Jahre ein Bild von der deutschen Skinheadszene vermittelte, das ausschließlich als rechtsextrem und gewalttätig einzustufen sei, hatten die inzwischen tätig gewordenen Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern ein weitaus differenzierteres Bild gewonnen. Bereits im Jahre 1991 (Verfassungsschutzbericht 1991, Bonn 1992) war man zu dem Ergebnis gekommen, dass zwischen mindestens 5 Gruppierungen von Skins unterschieden werden musste:
–     Nazi-Skins (White-Power-Skins), die zum Sympathisantenkreis neonazistischer Organisationen wie z.B. der FAP oder der Nationalen Front gehören und zu den überzeugten Rassisten und Nationalisten zählen. Ihre Musikbands zeichnen sich durch gewaltverherrlichende und neonazistische Texte aus.
–     rechtsextreme Skins, die ihrer Einstellung nach zu den Nationalisten zählen. Gewalttätige Ausschreitungen gegenüber Ausländern und Minderheiten sind keine Seltenheit.
–     unpolitische Skins. Sie entsprechen der ersten Generation von Skins in Großbritannien, die vor allem Spaß bei Saufgelagen, Fußball, Musikhören und Randalierereien haben wollen.
–     S.H.A.R.P.-Skinheads (Skindhead against racial prejudice). Sie treten entgegen ihren rechtsorientierten Kameraden demonstrativ für Asylbewerber und Ausländer ein. Sie organisieren eigene Konzerte und geben auch Fanzines heraus, die ihrer politischen Anschauung entsprechen.
–     Red-Skinheads (Anarcho-Skins), die als linksextremistisch einzustufen und politisch sehr engagiert sind (vgl. Skinheads in NRW, hg. vom Innenministerium des Landes NRW).

S.H.A.R.P.S – Skinheads

Dass die Skinheadszene nicht auf Großbritannien und anschließend auf Europa beschränkt blieb, lässt sich vor allem an den S.H.A.R.P.S. – Skinheads zeigen. Diese antirassistische Skinheadbewegung hatte sich in den USA formiert und war durch das britische Bandmitglied Roddy Moreno von der Gruppe The Oppressed in Europa bekannt geworden. Viele Jugendliche, die der Skinheadmusik zugetan waren, sich aber nicht mit dem Rechtsradikalismus identifizieren wollten, fanden sich mit ihren Gedanken in dieser Gruppierung wieder. Die Musik der Skinbands blieb in dieser Phase weitgehend dem Punkstil treu, übernahm aber auch Elemente des deutschen Polit-Metal. Allerdings erreichte kaum eine Skin-Band die musikalische Qualität und technische Fertigkeit, wie sie von vielen Heavy-Metal-Bands bekannt ist. Auch in Deutschland grenzten sich die Skinheads mit ihrer Musik und ihren Fanzines bewusst von anderen Jugendgruppen ab. Abgesehen von den musikalisch sehr reduzierten Stilmitteln war es nun vor allem der Text, durch den die Abgrenzung geschah. Auf der einen Seite verbreitete man rechtsextreme, rassistische und nationalistische Texte, auf der anderen Seite wurden Bilder vom Leben der Skinheads, ihrem Gefühl von der eigenen Ausgegrenztheit innerhalb unserer Gesellschaft und von den Lebensgewohnheiten der Skins geschildert. Musik als Ausdruck des eigenen Lebensgefühls war das Motto dieser Skingeneration.

Zur Rolle der Mädchen in der deutschen Skinheadszene

Entgegen anderen Jugendkulturen finden wir in der Skinheadszene von Anfang an kaum aktive Mädchen. Das „Macho-Gehabe“ vieler Skins sowie Äußerungen in Fanzines lassen die frauenverachtende Einstellung erkennen. Oft wird in den Fanzines ein Frauenbild heraufbeschworen, das der Rolle von Frau und Mutter im Dritten Reich entspricht (vgl. Funk-Hennigs 1994,52). Die bereits bei den britischen Skinheads angesprochene rückwärts gerichtete Haltung in Bezug auf gesellschaftliche Werte und Normen wird auch hier wieder deutlich. Als Lustobjekt findet der weibliche Partner Anerkennung. Kein Wunder, dass Frauen, die sich in diesem Terrain bewegen, kaum über ausreichendes Selbstbewusstsein verfügen. Sie werden von ihren sog. Freunden als „Fickhennen“ eingestuft (vgl. Farin/Seidel-Pielen 1993, 155). Die Gleichstellung von Mann und Frau wird abgelehnt, stattdessen einer organologischen Sichtweise das Wort geredet, die auf den natürlichen Unterschied zwischen Frau und Mann abhebt. Der Versuch weniger Mädchen, die auch Renees genannt werden, spezielle Skinheadgirlgruppen aufzubauen, ist inzwischen wieder aufgegeben worden. Finden sich dennoch vereinzelt aktive Skingirls, zeichnen sie sich durch besondere Kreativität und durch großes Organisationstalent aus (vgl. Farin, Seidel-Pielen, 1993). Bei den Anfang der neunziger Jahre zu beobachtenden Radikalisierungstendenzen musste allerdings festgestellt werden, dass fremdenfeindliche Gewaltaktionen fast ausschließlich als männertypisches Verhalten stattfanden. Gegen Skinheadgirls wurde nur im Zusammenhang mit Propagandadelikten ermittelt (vgl. Willems et. al. 1993).

Radikalisierungstendenzen innerhalb der deutschen Skinheadszene in West- und Ostdeutschland

Auch in der ehemaligen DDR tauchten schon Anfang der achtziger Jahre Skinheads auf. Natürlich versuchte die offizielle Politik diesen Tatbestand zu leugnen bzw. zu ignorieren. Neben der Medienzensur durfte selbst eine an der Leipziger Universität im Fach Soziologie erhobene Studie zu diesem Phänomen nicht vor der Wende veröffentlicht werden. Der Überfall von Skins und anderen rechten Gruppierungen auf ein Punkkonzert in der Ostberliner Zionskirche am 17. Oktober 1987 ließ sich allerdings nicht mehr verheimlichen. Zwischen 1988 und 1989 kam es z.B. zu 188 Prozessen wegen rechtsradikaler Delikte (Farin 1997,57). Gegen Ende der DDR organisierten sich die meisten Skins mit neonazistischen Gruppen, da sie von dem gleichen Gegner verfolgt wurden.

Die eigentliche Tradition der Skinheadkultur blieb den jüngeren Mitgliedern weitgehend unbekannt. Nach der Zusammenführung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 eskalierte die Gewaltbereitschaft im Osten und im Westen. Angriffe auf Asylantenheime, Ausländer, Homosexuelle, Linke und Behinderte überstürzten sich. Die Straftaten schnellten von durchschnittlich 250 pro Jahr in dem Zeitraum von 1987 -1990 auf 6336 Fälle im Jahre 1992 hoch (vgl. Willems et. al. 1993, 7/8). Die 1993 in allen Bundesländern durchgeführten Razzien seitens der Verfassungsschutzbehörden führten vorübergehend zu einer Beruhigung der Szene. Anhand der danach neu entstandenen Bands und den in ihrer Musik vermittelten Inhalte sind die Denkmuster jedoch rassistisch und nationalistisch geblieben. Der seit Anfang der 90er-Jahre zu beobachtende Trend, dass in den neuen Bundesländern eine deutlich höhere Zugehörigkeit der Tatverdächtigen zu rechtsextremistischen Gruppen festzustellen ist als in den alten Bundesländern (37,4% zu 19,3% ), scheint laut Aussagen des Verfassungsschutzberichtes von 1999 immer noch anzuhalten. Im Durchschnitt wurden in den östlichen Ländern 2,19 Gewalttaten je 100.000 Einwohner registriert, während sich die Zahl in den westlichen Ländern auf 0,68 belief (Verfassungsschutz 1999,21).

Zur Entwicklung eines europäischen Netzwerkes – Die „Blood and Honour“ – Bewegung

Unter Führung von Ian Stuart Donaldson und des harten Kerns der britischen Neonazi-Skinhead-Bewegung wurde 1987 „Blood and Honour“ ins Leben gerufen. Gruppen wie Skrewdriver, Brutal Attack, Sudden Impact, No Remorse und Squadron unterstützten die Bewegung von Anfang an und versuchten, sich auf diese Weise von dem unter der Ägide der National Front entstandenen „White Noise Club“ zu distanzieren. Es entstand eine Hochglanzzeitung desselben Namens, die sich vorwiegend durch nationalsozialistische Bildersymbolik und Runen auszeichnete und offenen Rassismus propagierte. Obwohl man sich durch diese Neugründung bewusst von der National Front absetzte, blieb die infolge der „Rock against Racism-Bewegung“ entstandene „Rock against Communism“-Bewegung das Grundgerüst der ideellen Überzeugung. Diese Organisation präsentierte sich durch das Magazin, die Organisation von Konzerten und die Herstellung von Merchandising-Artikeln. Kontakte zu der Plattenfirma „Rock-o- Rama-Records in Deutschland und Rebelles Européens in Frankreich, geleitet von Gael Bodilis in Brest, sorgten für die Verbreitung der extrem rechts orientierten Musik der „Blood and Honour“ – Organisation. Konzertreisen britischer Skinheadgruppen nach Deutschland, Belgien, Frankreich, Skandinavien und nach der Wende auch in osteuropäische Länder wie Polen, Tschechien, Bulgarien etc. zogen Jugendliche auf dem ganzen europäischen Kontinent an und konnten das Interesse vieler für diese rechtsradikale Musikrichtung wecken. Ende 1990 war das Netzwerk neonazistischen Gedankenguts über die Verbreitung der Skinheadmusik in vielen Ländern Europas so dicht gespannt, dass das Europaparlament einen Untersuchungsausschuss einsetzte, um gezielte Aussagen über die Entwicklung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in den Jugendkulturen auf internationaler Ebene treffen zu können. Dabei wurde Großbritannien vorgeworfen, dass die Subkultur der Skinheads von dort aus über den europäischen Kontinent verbreitet wurde ( Silver 2000, 35). In Anlehnung an „Blood and Honour“ wurden in den frühen 90er-Jahren auch in Belgien, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, den Niederlanden, in Polen, Schweden, Spanien, Ungarn und den USA entsprechende Skinfanzines produziert. Um die internationale Verbreitung zu fördern, erschienen viele Texte in englischer Sprache (Silver 2000, 36).

Zerfall der Musikszene in Großbritannien

Nach dem Unfalltod des Gründers von „Blood and Honour“, Ian Stuart Donaldson, der mittlerweile in der europäischen Skinheadszene als Kultfigur galt, zerfiel die Musikszene in Großbritannien in kleine, sich untereinander bekämpfende Fraktionen. Die Neonazi-Gruppe Combat 18 (C18) machte sich diesen Umstand zunutze, in dem sie den Namen für ihre eigene Zwecke benutzte. Sie gründete 1994 ein eigenes Label ISD (Ian Stewart Donaldson)- Records. Neben dem von der National Front in den achtziger Jahren gegründeten „White Noise“-Label war dies der erste neue Versuch, speziell für Skinheadmusik eine Produktionsstätte zu schaffen, die die vollständige Kontrolle über den kompletten Produktionsprozess beinhaltete, angefangen beim Inhalt der Texte bis zu den Gewinnen. Bis zu diesem Zeitpunkt war „Rock-o-Rama-Records“ führend auf dem internationalen Markt. Die nationalistischen Parteien hatten längst erkannt, dass sich die Verbreitung der Skinheadmusik, auch „White- Power- Musik“ genannt, als ein äußerst lukratives Geschäft erwies, mit dem man seine Parteifinanzierung wesentlich aufbessern konnte. Combat 18 machte sich mit dem neuen Label diese Strategie zu Eigen und erwirtschaftete allein in den Jahren 1995 und 1996 einen Gewinn von ca. 100.000 Pfund. Zurzeit lassen sich in dieser Szene große Mengen Geld verdienen, allerdings ist der Gegeneffekt, dass viele Gruppen und Richtungen sich untereinander zerstreiten und spalten.

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