Guido Brink / Reinhard Kopiez
„You’ll never walk alone"
Fußball-Fangesänge

Jede Woche lockt König Fußball die Massen in die Stadien.Von nah und fern kommen die Fans angereist, um die Bundesliga- und Europapokalspiele zu sehen und ihre Mannschaft mit Schlachtrufen und Gesängen zu unterstützen. Der Musikwissenschaftler Reinhard Kopiez und der Musikpädagoge Guido Brink haben sich das vermeintliche Gegröle der Fans einmal genauer angehört und sind dabei auf eine lebendige „musikalische Volkskultur" gestoßen, die bisher ungeahnte Erkenntnisse über das „Ur-Menschliche" sowie über verschiedene Aspekte massenhaften Singens gewinnen lassen. Hier sind einige Ergebnisse der monatelangen „Feldforschung" (im doppelten Sinne), die die beiden Fangesangsforscher jüngst in einem Buch veröffentlicht haben:

 

Wurde schon immer im Sport gesungen?

Die ersten Recherchen galten der Frage, seit wann eigentlich beim Sport gesungen wird. Die überlieferten Zeugnisse lassen keinerlei Rückschlüsse auf etwaige Gesänge bei Sportveranstaltungen, Gladiatorenspielen o.ä. in der griechisch-römischen Antike zu. Zwar wird von einem hohen Lärmpegel berichtet, den die Zuschauermassen in Stadien und Amphitheatern verursacht haben müssen, doch ein bei dem spätantiken Autor Cassius Dio erwähnter (überdies politisch motivierter) Sprechchor beim römischen Wagenrennen wird ausdrücklich als „göttliches Wunder", mithin als einmalige Ausnahme, geschildert. Ausschreitungen zwischen Zuschauergruppen waren in der Antike hingegen bereits bekannt, wie eine berühmte Stelle in den Annalen des Tacitus (XIV, 17) belegt. Auch lautstarke Rufe einzelner Zuschauer hat es sicher gegeben, aber koordinierte Gesänge sind nirgendwo bezeugt (nicht einmal für das legendäre Rugbyspiel in „Asterix bei den Briten"). Zwei wesentliche Voraussetzungen für den „Gesang der Masse" scheint es damals nicht gegeben zu haben: erstens Sportarten, die in ihrem Ablauf einen Wechsel von Spannung und Entspannung und damit auch psychologisch „Raum" für Gesänge bieten, und zweitens eine derart massenhafte Verbreitung von Musik, wie sie erst durch die Massenmedien des 20. Jahrhunderts möglich wurde.

 

„Urhymne" und „Urrhythmus"

Dementsprechend findet man die frühesten „echten" Fangesänge erst ab Mitte der sechziger Jahre, und natürlich stammen sie aus dem „Mutterland des Fußballs", aus England. Dort begründeten offenbar die Fans des FC Liverpool auf ihrer Stehplatztribüne, dem legendären „Spion Kop", die Tradition der Fangesänge, als sie Ende 1963 den Hit „You’ll never walk alone" von Gerry and the Pacemakers aufgriffen und die Refrainzeile daraus sangen. Nur wenige Jahre später entdeckten die englischen Fans auch ihren „Urrhythmus": den sogenannten „Soccer-Rhythmus", der im Jahr 1966 als rhythmische Grundlage für das Lied „Hold tight" der Gruppe Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich diente, von den Fans in England sofort aufgegriffen wurde, dank der noch im selben Jahr in England ausgetragenen Weltmeisterschaft sofort weltweite Verbreitung fand und sich bis heute ungebrochener Popularität erfreut. Bekannt ist er vor allem aus Länderspielen der deutschen Nationalmannschaft mit dem Text „Deutsch-land!" am Ende; es kann aber auch jeder beliebige zweisilbige Name eingesetzt werden, wie z.B. der einer Stadt:

 

Notenbeispiel: Soccer-Rhythmus (CD Track 40)

 


Das massenhafte Singen fand derart große Beachtung, daß man noch in den siebziger Jahren in englischen Stadien versuchte, die Fans von einem Dirigenten leiten zu lassen. Daß dies nicht der Sinn der Sache sein kann, ist nicht nur den Fans klar: Die Gesänge der Südkurve leben schließlich davon, daß sie nicht „von oben" verordnet werden. Außerdem brauchen die Fans gar keinen Dirigenten; es gibt andere Mechanismen, die das massenhafte Singen genauso effektiv koordinieren.

 

 

40000 Sänger und kein Gotthilf Fischer

Als Anstimmer fungieren im Stadion erfahrene und anerkannte „Oberfans", die im Jargon „chant-leader" heißen. Nur wenn diese ein Lied anstimmen, hat es eine Chance, von umstehenden Fans mitgesungen zu werden. Die einzelnen Lieder werden dabei immer in jeweils fast derselben Tonart angestimmt. Dies hat folgenden Grund: Die Spitzentöne der Lieder bewegen sich stets an der Obergrenze des Bruststimmenregisters ungeübter Männerstimmen (etwa f’-g’). Liegt der Spitzenton bei der Quinte oder Sexte der Grundtonart, wird das Lied in einem Bereich von etwa A-Dur bis C-Dur gesungen. Sind Terz oder Quarte die Spitzentöne, ist die Tonart des Liedes etwa Des-Dur bis Es-Dur. Die Fans singen übrigens nicht etwa höher, wenn ihre Mannschaft in Führung liegt; die relativ hohe Tonlage erklärt sich vielmehr dadurch, daß damit die zu jeder Zeit erwünschte größtmögliche Lautstärke produziert werden kann.

Bei der rhythmischen Koordination der Gesänge ist das allerorten übliche Mitklatschen von entscheidender Bedeutung. Bisher kannte die Musikpsychologie den „600-Millisekunden-Oszillator" als „Rhythmus, wo jeder mitmuß" – ein Tempo also, bei dem man „automatisch" zum Mitklatschen animiert wird (auf dem Metronom: Tempo 100). Die Studien im Stadion zeigten jedoch, daß die Fans dort im Durchschnitt wesentlich schneller singen und klatschen: Es scheint einen weiteren Oszillator bei ca. 400 ms (als Metronomzahl ist dies 150) zu geben, den man gewissermaßen als „höheren rhythmischen Teilton", in Analogie zur Obertonreihe sogar als „rhythmische Oberquinte" (wegen des Verhältnisses von 3:2) bezeichnen könnte. In diesem schnelleren Rhythmus klatschen Menschen offenbar dann, wenn sie sich in einem Zustand größerer Erregung befinden.

 

 

Psychologische Kriegsführung und Rituale

Dieser Zustand rührt von der starken emotionalen Beteiligung am Spielgeschehen her. Die Zuschauer wollen Einfluß nehmen, sie wollen sich als Gruppe selbst darstellen, und sie wollen natürlich ihre Mannschaft siegen sehen und mit ihr feiern. Zur Anfeuerung der eigenen Mannschaft gehört komplementär die Diffamierung des Gegners und seiner Fans. Wenn es darum geht, den Gegner an seinem empfindlichsten Punkt zu treffen und ihn bloßzustellen, ist jedes Mittel recht und das gesamte Repertoire unterhalb der Gürtellinie erlaubt. Die Refrainzeile von „Yellow Submarine", die als „Mutter aller Schmähgesänge" mit dem Text Zieht den Bayern die Lederhosen aus! in ganz Deutschland bekannt ist, wird auch für zahlreiche andere Texte verwendet, z.B. Eins, zwei drei und wieder ‘mal vorbei! nach einem Fehlschuß des Gegners oder Ihr seid nur ein Karnevalsverein! in Richtung Köln. Untersuchungen der Texte von Fangesängen ergaben, daß die Fans immer dann am kreativsten sind, wenn es gilt, sich neue Gesänge zur Diffamierung des Gegners und seiner Fans auszudenken. Ein schönes Beispiel dafür ist auch der Text „Ihr wollt Deutscher Meister sein?" zur Melodie von „Over in the Gloryland". Dieses Lied sangen die Fans des 1. FC Köln in der Saison 1996/97 gegen den damals amtierenden Deutschen Meister Borussia Dortmund. Das Wichtigste am Vortrag ist natürlich – das lehrt uns das Klangbeispiel – das kräftig gerufene „Ha, ha, ha!" am Schluß. Auch das Auslachen der gegnerischen Mannschaft, ihrer Spieler und Fans wird als Mittel zur Demoralisierung des Gegners angewendet.

 

Notenbeispiel: „Ihr wollt Deutscher Meister sein?" (CD Track 9)

 

 

 

Angesichts solcher Kreativität könnte man gegen das bekannte Sprichwort schlußfolgern: Böse Menschen haben viele Lieder. Gleichwohl sollte man die Fans nicht pauschal als „böse Menschen" abstempeln und die Fankultur nicht als bloße „Neandertalerkultur" mißverstehen. Fangesänge sind zu einem erheblichen Teil auch „Arbeitsgesänge"; sie sollen die eigene Mannschaft zu mehr Leistung anspornen und ihr die Arbeit erleichtern. Eine gewisse aggressive Grundstimmung ist dabei vorprogrammiert und sogar ritualisiert – ein Stadion ist schließlich keine Kuschelecke. Wer seine Mannschaft zuverlässig unterstützen will, muß stark und geschlossen auftreten, darf sich keine Blöße geben und dem Gegner keine Angriffspunkte bieten. Eine wichtige Hilfe sind dabei Rituale, die bei jedem Spiel gleich dutzendweise zelebriert werden. Die rituelle Beleidigung des Gegners und seiner Fans gehört ebenso dazu wie das Schalspannen oder das Anstimmen von Siegesliedern auch bei noch unentschiedenem Spielstand.

Mit Hilfe uralter Mittel, nämlich Narkotika, Tanz und Maske, die der Volksliedforscher Ernst Klusen (wenn auch für andere Zusammenhänge) bereits 1969 formulierte, werden die Fußball-Götter um Hilfe angerufen. Man könnte ein Fußballspiel sogar als eine ganz herausragende allwöchentliche Kulthandlung interpretieren – so sehr ist das gesamte Geschehen von Ritualen auf dem Platz und auf den Tribünen beherrscht. Zu den Ritualen gehört auch das „Anpinkeln" gegnerischer Lieder: So wird z.B. durch eine kleine Textänderung aus Cologne, Cologne, der Meister vom Dom die „Exkrementen-Version" Cologne, Cologne, die Scheiße vom Dom. In unserem Klangbeispiel versuchen die Dortmunder Fans eine doppelte Diffamierung des „Cologne"-Liedes, indem sie zusätzlich zur „Exkrementen-Version" noch den „vornehmen" Namen der Stadt,„Cologne", durch das abwertende „Kölle" ersetzen.

 

Notenbeispiel: „Kölle, Kölle, die Scheiße vom Dom" (CD Track 24)

 

 

Alles Bastelei

Damit sind wir bereits mitten in der „geistigen Werkstatt" der Fans angekommen. Die meisten „neuen" Lieder sind nämlich gar nicht neu, sondern sie entstehen durch Umtextieren und durch „Umsingen" bzw. „Zersingen", oder zumindest durch das Hineinstellen in einen neuen Zusammenhang bzw. durch die Integration in die eigene Kultur (Prinzip der „Homologie"). Fans verhalten sich (gemäß der Theorie von Lévi-Strauss) weniger wie Ingenieure, die projektbezogen arbeiten und sich die nötigen Materialien für ihre Werke stets neu beschaffen, sondern vielmehr wie „Bastler", die nur mit den Mitteln arbeiten, die ihnen zufällig gerade zur Verfügung stehen, und so ständig aus Altem etwas Neues erschaffen.

Minimale Textänderungen (oftmals nur der Austausch der drei Buchstaben des Vereinskürzels) sind bereits ein entscheidender Eingriff; in den meisten Fällen verstehen die Fans unter einem „neuen Lied" jedoch schlicht einen grundsätzlich neuen Text zu einer bereits bekannten Melodie – eine Auffassung, die sie mit vielen musikalischen Laien teilen und die gerade für mündliche Traditionen (oral traditions) typisch ist. In der musikwissenschaftlichen Terminologie bezeichnet man das Verfahren, eine Melodie mit einem neuen Text zu unterlegen, als Kontrafaktur oder Parodie. Die meisten Fangesänge sind also Kontrafakturen bzw. Parodien auf bekannte Lieder aus der Schlager-, Pop-, Stimmungs- oder Volksliedbranche. Ähnlich wie bei Kontrafakturen im späten Mittelalter wird auch im Stadion ein weltliches Lied in ein geistliches umgedichtet.

Nun ist ein Fangesang zwar nicht direkt ein „geistliches" Lied, aber er ist dennoch für einen geradezu rituellen Zweck geschaffen. Wenn man bedenkt, daß z.B. der Rasen von Wembley „heilig" ist und so mancher Spieler als „Fußballgott" angerufen wird, dann ist die Analogie ganz klar: Auch ein Fangesang ist „heilig", wenn er einmal entstanden ist – zumindest den Fans. Und mehr noch: Wenn die Plattenindustrie versucht, die „heiligen Gesänge" der Südkurve für kommerzielle Zwecke zu vereinnahmen und als billige, gewöhnliche Schlager zu vermarkten, kommt das ebenso einem Sakrileg gleich wie im Spätmittelalter die weltliche Kontrafaktur auf geistliche Lieder. Man muß sich also nicht wundern, wenn kaum ein „echter" Fan solche Produkte kauft! Das ist auch gut so, denn in einem Zeitalter völliger Kommerzialisierung muß es „Nischen" geben für mündliche Traditionen, für spontanes („primärfunktionales") Singen und Dichten und damit für urtümliche Kreativität. Welche Lieder sind aber nun auserwählt, in das Repertoire der Südkurve aufgenommen zu werden? Was macht ein Lied „stadiontauglich"?

 

 

Die „Hitfaktoren"

Welche Merkmale die Aufnahme einer Liedzeile in das Stadionrepertoire garantieren, weiß niemand. Die „hinreichenden Bedingungen" dafür zu kennen, wäre wie eine Lizenz zum Gelddrucken. Man kann allenfalls einige „notwendige Bedingungen" nennen, Voraussetzungen also, die ein Lied erfüllen muß, damit es in der Südkurve überhaupt gesungen werden kann. Dazu gehören eine „glatte", möglichst spannungslose Melodie ohne „Ecken und Kanten", also ohne Vorhalte und Synkopen, ohne abgebogene Leittöne (möglichst sogar ganz ohne Leittöne), meist in gerader Taktart, von geringem Ambitus (Quinte bis Oktave) und mäßigem Umfang (ca. 4-9 Takte). Zudem muß die Melodie für eine „Endlosschleife", d.h. für beliebig viele Wiederholungen, geeignet sein. Diese Bedingungen erfüllen viele Refrainzeilen aus Stimmungsschlagern und anglo-amerikanischen „Traditionals". Bei vielen Liedern und Kurzgesängen (das sind Rufe mit bestimmter Tonhöhe wie z.B. das unten zitierte „Borussia Dortmund") ist zudem eine starke Affinität zu pentatonischer Leiermelodik zu beobachten, die in zahlreichen Kinderliedern wie z.B. Backe, backe, Kuchen oder Ich bin ein kleiner König auftritt. Man könnte daher vom „Bin-ein-kleiner-König"-Prinzip oder, in musikalischen Begriffen, vom „Terz-Quint-Sext-Modell" reden, in dem bekanntlich auch die „Rufterz" enthalten ist.

 

 

Notenbeispiel "Ich bin ein kleiner König" (Anfang)

 


Notenbeispiel: Kurzgesang: „Borussia Dortmund" (CD Track 35)

 

 

In rhythmischer Hinsicht sollte ein Fangesang ebenfalls einfach oder auf einfache Prinzipien reduzierbar sein. Drei bis fünf verschiedene rhythmische Werte reichen völlig aus, längere Pausen werden „zersungen", d.h. deutlich verkürzt oder ganz weggelassen. Insgesamt dominieren somit, in den Worten von Hermann Rauhe, integrationsfördernde Strukturmerkmale; Ausnahmen bestätigen jedoch wie immer die Regel, und welches Lied als nächstes der neue Hit in den Fankurven werden wird, weiß niemand. In der Zufälligkeit der Auswahl liegt letztlich ein Zeichen für die Lebendigkeit der musikalischen Volkskultur der Südkurve.

 

Wer singt am besten?

Gesicherte Erkenntnisse darüber, wer der Sängerkönig der Bundesliga ist, liegen ebenfalls nicht vor. Hierzu müßte man über eine komplette Saison hin sämtliche Heimspiele aller Vereine statistisch erfassen und auswerten – eine Mühe, der sich noch niemand unterzogen hat und die vielleicht auch gar nicht lohnt. Als Trend zeichnet sich jedoch klar ab, daß dort, wo viele Siege zu verzeichnen sind, auch die meisten verschiedenen Lieder gesungen werden, mithin das Repertoire wie auch die Aktionsdichte am größten sind. Bei Vereinen wie dem Deutschen Rekordmeister FC Bayern München, der seit Jahrzehnten die weit überwiegende Zahl seiner Bundesligaspiele gewonnen hat, ist dies der Fall, und seine Fans erreichen eine beeindruckende Sangesaktivität. Ob sie auch die Deutschen Meister der Fangesänge sind, ist jedoch nicht einwandfrei zu ermitteln; es spricht nur manches dafür, und die Bayern-Fans wären sicherlich in der „Spitzengruppe" zu finden.

 

Ein neues Menschenbild

Die Studie über Fangesänge führt schließlich zur Formulierung eines neuen Menschenbildes: des Homo fanaticus. Nach dem Homo faber, dem Homo oeconomicus, dem Homo oecologicus, dem Homo ludens und dem Homo spiegelreflectis aus der Werbung ist es an der Zeit, auch dem Homo fanaticus, dem von den (Fußball-)Göttern in Raserei versetzten Menschen, zu seinem Recht zu verhelfen. Er lebt in einem der letzten Biotope ur-menschlichen Daseins (nämlich der Südkurve), ergeht sich in Ritualen, trinkt, tanzt und tobt, und vor allem: Er singt – er macht Musik.