Václav Drábek (Prag) Jugend und E-Musik

10.04.2000

Aus der Tschechischen Republik erhalten wir einen Bericht über das Verhalten Jugendlicher gegenüber E-Musik, den wir unseren Lesern gerne zur Kenntnis geben wollen. Interessant wären Forschungsberichte zu diesem Thema auch aus anderen Regionen Europas, die wir in dieser Rubrik veröffentlichen möchten.

Jugend und E-Musik

Ästhetische, psychologische und soziologische Aspekte der Haltung von Jugendlichen zur Tonkunst

Die Frage, was Kinder und Jugendliche von heute anhören und wie sie sich musikalisch verhalten, zählt zu den Schlüsselproblemen der Musikpädagogik. Unsere Untersuchung versucht, einige Zusammenhänge zu enthüllen. Unser Hauptziel dabei war, die Qualität ästhetischer Erlebnisse von Jugendlichen gegenüber ernster Musik festzustellen.
Es handelte sich vor allem um die Beantwortung folgender Fragen:

In welchem Maße hat die Explosion der Rock-Musik mit allen ihren Besonderheiten und Begleiterscheinungen das Verständnis für ernste Musik bei der Jugend beeinflusst, ihre Haltung zur Musik im allgemeinen und zur schulischen Musikerziehung im besonderen?

Testverfahren

Das angeführte Ziel erforderte methodisch eine Kombination psychologischer und soziologischer Vorgehensweisen, konkret die Anwendung eines „Phonotests“ (Klingender Fragebogen) mit Bewertungsskalen eines semantischen Differentials in Verbindung mit einem Fragebogen sowie mit Beobachtungen und Gesprächen. Im Hinblick auf die Ergebnisse früherer Untersuchungen gehen wir davon aus, dass der Vergleich der beiden Untersuchungen statistisch signifikante Ergebnisse hinsichtlich der oben aufgeworfenen Fragen erbringt. Die erste Untersuchung wurde im Jahr 1981 in Pardubice durchgeführt, die zweite im Jahr 1994 in Prag. Beide fanden im Rahmen des Musikunterrichts an Hauptschulen statt. ?

Untersuchung I (1981) Pardubice
Untersuchung II (1994) Prag
Alter
Gesamtzahl
Knaben
Mädchen
Alter
Gesamtzahll
Knaben
Mädchen
13
88
50
38
14
80
35
45
14
70
33
37
15
55
30
25
15
17
12
5
16
40
20
20
Gesamt
175
95
80
Gesamt
175
85
90

Tab. 1: Überblick über die Teilnehmer

Auswertung des Fragebogens

Als häufigste Quelle für das Anhören von Musik führen in beiden Fällen über 60 % der Befragten das Tonband, 20 % den Rundfunk, 12 % ein Grammophon und nur 5 % das Fernsehen an. Andere als mediale Kontakte mit Musik (Besuch von Konzerten, Aktivität in Musikensembles) führten in den beiden Untersuchungen nur 20 % der Schüler an. Auf diese Weise wird eindeutig die Bindung der Teenager an die Massenkommunikationsmittel bestätigt, insbesondere der starke Einfluss der Börse von Tonbandaufnahmen unter Altersgenossen. Die Musikprogramme aus Rundfunk und Fernsehen unterliegen einer kritischen Auswahl der Jugendlichen im Hinblick auf die Präferenz bestimmter Gruppen und Sänger.

In der Rangfolge der Genre-Präferenzen steht Rockmusik an erster Stelle; sie wurde in der ersten sowie auch in der zweiten Untersuchung von nahezu 70 % der Schüler angeführt. An zweiter Stelle stehen Popmusik, Country und Folk mit 15 % der Stimmen in der ersten und 20 % in der zweiten Untersuchung. Den dritten Platz nimmt traditioneller Jazz ein. Zu ihm bekannten sich im Jahre 1981 9 %, im Jahr 1994 5 % der Schüler. Interesse für ernste Musik führten im Jahr 1981 15 % an, 1994 nur noch 10 %. Ebenso viele Schüler hören gelegentlich ernste Musik, geben aber anderen Genres den Vorzug.

Interessant ist das Ergebnis in Bezug auf die Haltung von Teenagern zum Gegenstand der Musikerziehung. Eine positive Haltung steht in beiden Untersuchungen völlig ausser Zweifel. Nur 10 von 175 Schülern, d. h. 5,72 % hielt im Jahr 1981 die Musikerziehung an Schulen für überflüssig, im Jahr 1994 niemand.

1.

J. Bach: Badinerie aus der Suite h-Moll, BWV 1067

2.

J. Haydn: Andante cantabile, Streichquartett F-Dur „Serenate“ Hob. III/17, 2. Satz

3.

G. Gershwin: Rhapsody in Blue – Einleitung

4.

S. Prokofjew: Symphonie Nr. 1 D-Dur „Klassische“ (1. Allegro)

5.

R. Schumann – V Hybš: Träumerei. Text Z. Borovec, Gesang K. Gott (M. P. Mussorgski: Das grosse Tor von Kiew – Orchesterfassung)

6.

S. Prokofjew: Tybalds Tod (Romeo und Julia, Suite Nr. 1)

7.

R. Schumann: Träumerei (Kindersszenen) – Klavier (M. P. Mussorgski – I.. Tomita: Das grosse Tor von Kiew – Synthesizer)

8.

G. F. Händel: Feuerwerksmusik – Ouverture

9.

A. Ch. Adam: Der Postillion von Lonjumeau, Gesang N. Gedda (G. Verdi: Troubadour „Di quella pira“, Gesang P. Domingo)

10.

A. Dvorák: Tschechische Suite-Finale. Der Furiant (Ende)

Tab. 2: Reihenfolge der Darbietung der musikalischen Beispiele
Zur Beurteilung wurden 11 fünfstufige Skalen benutzt, die der schulischen Notengebung entsprechen, allerdings in umgekehrter Reihung (die höchste Note 5, die niedrigste 1). Der Mittelwert (3) bedeutet eine neutrale Bewertung, d. h. Unentschlossenheit, Unsicherheit der Beurteilenden.

1. bekannt
lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft
ungewohnt
2. lebhaft
lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft
schleppend
3. unmelodisch
lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft
melodisch
4. einfach
lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft
kompliziert
5. farbig
lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft
blass
6. unangenehm
lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft
angenehm
7. beruhigend
lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft
erregend
8. schlecht
lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft
gut
9. rhythmisch
lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft
unrhythmisch
10. langweilig
lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft
interessant
11. geordnet
lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft lebhaft
ungeordnet

Tab. 3: Fünfstufige Skalen

Auswertung und Interpretation

Die Auswertung der erhobenen Daten wurde im Computer-Zentrum der Pädagogischen Hochschule in Hradec Králové durchgeführt. Für jede Vpn wurde ein Mittelwert aller zehn Beispiele berechnet. Die Ergebnisse wurden dann aufgrund der Ähnlichkeit der Beurteilungskriterien in Gruppen eingeteilt (1). Für jedes Beispiel wurde dann die Gruppenbewertung einem Chi-Quadrat-Test unterzogen, der auch für die Überprüfung der Untersuchungshypothesen eingesetzt wurde.

Ergebnisse des Phonotests

Ungeachtet des Abstands von vierzehn Jahren zeigen beide Untersuchungen bis auf zwei Ausnahmen große Übereinstimmung in der Beurteilung der Musikbeispiele. In der Reihenfolge der Beliebtheit nach den Skalen gut – schlecht, angenehm – unangenehm nahmen in beiden Fällen die beiden ersten Positionen Bachs „Badinerie“ und Prokofjews „Symphonie classique“ ein, den sechsten Platz Haydns „Andante cantabile“, die beiden letzten Plätze „Tybalds Tod“ und die „Rhapsody in Blue“ (siehe Tabelle 4).

Untersuchung I
Punkte
Untersuchung II
Punkte
Bach: Badinerie
261
Bach: Badinerie
296
Prokofjew: Klassische
242
Prokofjew: Klassische
216
Schumann: Träumerei (pop)
230
Mussorgski: Grosses Tor (Synthesizerfassung)
184
Händel: Feuerwerksmusik
223
Mussorgski: Grosses Tor (Orchesterfassung)
178
Dvorák: Der Furiant
222
Verdi: Troubadour
168
Haydn: Andante cantabile
220
Haydn: Andante cantabile
160
Schumann: Träumerei (Klav.)
182
Händel: Feuerwerksmusik
128
Adam: Postill. v. Lonjumeau
-22
Dvorák: Der Furiant
104
Prokofjew: Tybalds Tod
-42
Prokofjew: Tybalds Tod
32
Gershwin: Rhapsody in Blue
-48
Gershwin: Rhapsody in Blue
-24

Tab. 4: Beliebtheit der Beispiele aufgrund der Gesamtbewertung

Die Bewertung weist drei verschiedene Kategorien auf: a) Beispiele, die im Hinblick auf die Kumulation ihrer positiv beurteilten Eigenschaften (optimistischer Ausdruck, überschaubare Form, ausgeprägte Melodik und Rhythmik, stabiles Metrum) spontan positiv aufgenommen werden; b) Beispiele, die wegen des Einflusses einzelner Parameter mit gewissen Vorbehalten aufgenommen werden (Schumann: „Träumerei“ – geringe Ausgeprägtheit der rhythmischen Komponente, langsames Tempo, blasse Farben des Klaviers, melancholischer Ausdruck; Adam: „Der Postillion von Lonjumeau“ – Vorbehalte gegen die gesangliche Äusserung des Solisten, geschulte Stimme); c) Beispiele, die eindeutig abgelehnt werden (Nr. 9, 10). Beide Beispiele sind der Musik des 20. Jahrhunderts zugehörig. Gershwin ist für die im Jazz nicht orientierten Zuhörer strukturell kompliziert (unüberschaubar), die häufigen Veränderungen von Tempo und Metrum rufen den Eindruck einer Improvisation hervor („Es kam mir vor, als ob jemand zu spielen beginnt, sich dann sagt, es geht ihm nicht von der Hand, und der dann etwas anderes zu spielen beginnt“ – eine Schülerin der 8. Klasse). In dieser Hinsicht ist Prokofjew mit seiner Motorik das krasse Gegenteil, einige auffallenden Dissonanzen in der Melodie setzen ihn jedoch deutlicher Ablehnung aus.

Überraschend war in der zweiten Untersuchung die sehr positive Bewertung der orchestralen Version des „Grossen Tor von Kiew“, obwohl das offenkundige Pathos sonst von Jugendlichen dieses Alters eher abgelehnt wird. Deshalb hatten wir die Synthesizerfassung aufgenommen, weil wir annahmen, dass sie für die Jugend akzeptabler ist, und zwar sowohl wegen des Sound als auch wegen ihres weniger pathetischen Klangs. Diese Version erhielt dann auch die höchste Punktsumme.

Noch überraschender war die sehr positive Beurteilung des Opernbeispiels (Verdi: „Troubadour“, Stretta des Manrico „Lodern zum Himmel…“). Als wir vierzehn Jahre früher an seine Stelle die Arie Chapelous aus Adams Oper „Der Postillion von Lonjumeau“ einsetzten, wurde dies Beispiel sehr negativ aufgenommen. Die Ablehnung rief damals ein einziger Faktor hervor: die Ausdrucksweise der bel canto-Stimme, die mit den ästhetischen Idealen vokaler Interpretation der Popmusik unvereinbar war. Nur ein Viertel der Schüler, das sich fast ausschliesslich aus Anhängern ernster Musik zusammensetzte, fand eine positive Haltung zu dem Beispiel. Das zeigte, dass die Stimmästhetik der Oper vom Gesichtspunkt der „Song-Generation“ eher gekünstelt empfunden wird. Umso ermutigender ist die derzeitige Akzeptanz des Opernbeispiels (Stretta Manricos). Auch wenn es sich wohl um einen vorübergehenden Erfolg handelt, hervorgerufen durch die massive Fernsehwerbung der Konzerte der drei Star-Tenöre (33 % der Probanden führten als Interpreten des Beispiels L. Pavarotti an), ist dies dennoch ein überzeugender Beweis dafür, wie die Massenmedien zur Steigerung der Akzeptanz und zur Geschmacksbildung beitragen können, und dies nicht nur in der jungen Generation.

Pädagogische Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse zeigen, dass sich in der Tschechischen Republik die Einstellung der Jugend zur Musik in den letzten vierzehn Jahren nicht wesentlich verändert hat, sowohl was die Präferenzen als auch was die Wertungen konkreter Musikausschnitte betrifft. Die apperzeptive Kapazität der Schüler bleibt auf dem Niveau „des Kodes der geläufigen Musiksprache“ (Vitányi), was bedeutet, dass der Sinn für Melodie und Tonalität, für einfache Harmonie und Musikstruktur auch weiterhin die Grundlage des Musikempfindens der jungen Generation bleibt. Die Untersuchung hat ferner gezeigt, dass Musikhören bis heute nicht völlig in die schöpferischen und ästhetischen Aktivitäten integriert ist. Was am meisten fehlt, ist die Betätigung von multisensorischen Aktivitäten, die bei der Bildung von Musikvorstellungen einbezogen werden (Gesang, Improvisation, Bewegung usw.).

Die Überwindung der Stagnation in der Musikrezeption erfordert die Durchsetzung einer Konzeption, die nicht nur „vom Volkslied zur Symphonie“ fortschreitet, sondern auf der universalen Musikauffassung als organisiertem Klang aufbaut. So kann auch mit guter Rockmusik gearbeitet werden, von der direkte Verbindungen zur gegenwärtigen ernsten Musik, zum Jazz und zu anderen Genres führen.

Anmerkungen

1) Vgl. Jost, E.: Sozialpsychologische Faktoren der Popmusik-Rezeption. Mainz 1976

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